Aus dem Bidonville ins Kabinett von Villepin

Als Kind algerischer Einwanderer wuchs Azouz Begag in einem Lyoner Banlieue auf. Ihm gelang der gesellschaftliche Aufstieg: nun wurde er zum "Minister für Chancengleichheit" ernannt.

Von Bernhard Schmid

"Das hätte ich mir nie träumen lassen: Dass ich als Minister über die Champs-Elysées gehen würde, wenn mein Film herauskommt" erklärte Azouz Begag vor kurzem im Interview mit einem französischen Radiosender.

Der 47-jährige Sohn algerischer Migranten, die ­ wie er immer wieder erzählt ­ weder lesen noch schreiben konnten und der Misere auf dem algerischen Land in die Lyoner Industrie entflohen, staunt selbst über diesen letzten Höhepunkt seiner verschlungenen Karriere.

Kurz zuvor war "Camping à la ferme" (Zelten auf dem Bauernhof) in den Pariser Kinos angelaufen, zu dem Azouz Begag das Drehbuch geschrieben hatte. Der kurzweilige Film zeigt sechs Jugendliche aus den Banlieues einer französischen Großstadt, wie sie einen Monat gemeinnützige Arbeit auf einem Dorf leisten, eine Strafe, die ihnen als Alternative zum Gefängnis angeboten wurde.

Kritischer Blick auf die französische Gesellschaft

Ohne die Jugendlichen zu Engeln zu verklären ­ einer etwa versucht während seiner gemeinnützigen Arbeit Geld zu stehlen ­ kritisiert der Film auch die französische Mehrheitsgesellschaft.

So stellt sich die anfänglich enthusiastisch auftretende Bürgermeisterin als egozentrische Karrieristin heraus, die unbedingt ins Fernsehen wollte. Und die Rassisten des Dorfes, die "diese Fremdländischen" gar nicht erst ankommen sehen wollen, bekommen ordentlich ihr Fett weg.

Unbestrittener Held des Films ist der Erzieher migrantischer Herkunft. Ein kleiner Frauenheld, der nach eigener Aussage in seiner Jugend selbst einige "Dummheiten" beging, aber dank Studium, Arbeit und seriösem Auftreten zur Respektsperson geworden ist. Er meistert all die auftretenden Konflikte erfolgreich. Ohne Zweifel porträtierte Azouz Begag sich hier auch selbst.

Kindheit im Bidonville

Azouz Begag wurde 1957 in einem Bidonville, einem Slum aus Blechhütten für Migranten aus dem damaligen Industrieproletariat, am Rande von Lyon direkt am Ufer der Rhône geboren. Die dort verbrachte Kindheit hat er in seinem allerersten Roman verarbeitet, "Le Gone de Chaâba" ­ Gone bedeutet "Kind", und das Bidonville hieß El-Chaâba -, der 1986 erschien und zehn Jahre später verfilmt wurde.

Obwohl selbst ohne Schulbildung, hielt der Vater ihn in frühem Kindesalter zum fleißigen Arbeiten in der französischen Schule an, ahnend, dass darin das Geheimnis des sozialen Aufstiegs liege.

Dieser gelang Azouz Begag tatsächlich: Er wurde Doktor der Wirtschaftwissenschaft, Forscher am französischen Wissenschaftszentrum CNRS und Hochschullehrer. In seinen Forschungen wie in seinen Romanen widmete er sich bevorzugt den Problemen, die seine eigene Geschichte ausmachen: der Frage nach sozialer Mobilität von Migranten.

Zukunftschancen durch Bildung

Bildung erwerben und die "sozialen Ghettos" der Banlieues so schnell wie möglich verlassen: Das ist das Rezept, das er den Jugendlichen aus Migrantenfamilien immer wieder anbietet. In diesem Sinne verfasste er im Frühjahr 2004 auch einen Bericht für den damaligen Innenminister ­ und jetzigen Premier ­ Dominique de Villepin, in dem er vor allem die Öffnung des Staatsdienstes, der Polizei und höherer Berufe für Migrantenkinder empfiehlt.

Seine Vorschläge wurden zumindest insoweit erhört, als dass Villepin sich bei seiner Regierungsbildung Anfang Juni an Begag erinnerte: Er machte ihn zum "Minister für die Förderung der Chancengleichheit". Dass es die konservativ-liberale Rechte ist, deren Ruf Begag ins Kabinett folgt, ist wohl kein Zufall.

Enttäuschung von der französischen Linken

Denn die Enttäuschung über mehr als ein Jahrzehnt leerer Versprechungen durch die seit 1981 regierenden Linksparteien, zu deren "natürlichen" Wählern die meisten Franzosen aus Migrantenfamilien aufgrund ihrer sozialen Zugehörigkeit anfänglich zählten, war enorm. So sehr, dass die etablierten Linksparteien den Draht vor allem zu den gut ausgebildeten und nach einer - eventuell auch politischen - Karriere strebenden Migrantenkindern weitgehend verloren haben.

Dazu kommt, dass die Bürgerlichen unter Jacques Chirac zumindest auf verbaler Ebene das Leid der Palästinenser wesentlich mehr berücksichtigen als die sozialdemokratische Vorgängerregierung unter Lionel Jospin, der sehr einseitig pro-israelisch auftrat. Auch dies hat zu einer Annäherung vieler gut qualifizierter junger Leute aus Migrantenfamilien an die bürgerliche Rechte geführt.

Kein Befürworter von Quoten

In Sachen "Förderung der Chancengleichheit" muss Azouz Begag einige Kontroversen in der neuen Regierung durchstehen. Deren Innenminister Nicolas Sarkozy steht für eine Mischung aus extrem repressiver Politik in den Banlieues einerseits und der Förderung einer schmalen Bildungselite aus den Migrantenfamilie durch Einrichtung fester Quoten - im Namen der "positiven Diskriminierung" - andererseits.

Begag lehnt solche Mechanismen ab, da sie die Betroffenen auf eine "Identität" festzulegen drohten und gleichzeitig Zweifel an der Kompetenz derer nähren würden, die von einer Quotenregelung profitieren.

Statt als "Muslim", wie Sarkozy ­ der im übrigen den traditionellen Laizismus der französischen Republik offensiv in Frage stellt ­ vorschlägt, sollen die jungen Leute aus Begags Sicht lieber als "kompetente Schul- und Hochschulabsolventen" Anerkennung finden. Freilich sollen ihnen dabei Hindernisse durch unberechtigte Diskriminierung aus dem Weg geräumt werden.

Auch dem repressiven Kurs des derzeitigen Innenministers hat Begag mit verhaltenen, aber klaren Worten widersprochen. Zu den jüngsten Sprüchen des Innenministers ­ der einen Pariser Banlieu "mit dem Hochdruckreiniger zu säubern" versprach, von Gesetzesbrechern ebenso wie von illegalen Einwanderer, - erklärte er, der Begriff "säubern" gehöre nicht zu seinem Vokabular für Menschen: "Ich säubere meine Schuhe, oder meine Blumentöpfe."

Im oben erwähnten Film freilich wird der Law-and-Order-Minister auf andere Weise subtil kritisiert: Die Bürgermeisterin, die in dem Film auftritt, lässt sich mit den Worten "Ach wissen Sie, ein paar Faschisten gibt es überall" ­ die sich eigentlich auf die Dorfrassisten beziehen - ein Bild von Nicolas Sarkozy reichen, um es im Rathaus aufzuhängen. Begag konnte wohl nicht ahnen, dass er mit dem Mann bei der ersten Ausstrahlung des Filmes am Kabinettstisch sitzen würde.

Bernhard Schmid

© Qantara.de 2005

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