Israels kritische Intellektuelle in der Defensive
Die Aufbruchstimmung, die Anfang der neunziger Jahre in Israel mit dem damals noch viel versprechenden Friedensprozess aufkam, scheint heute, wo die intellektuelle Szene im Land stagniert, ferne Vergangenheit zu sein.
Damals hatten im akademischen Establishment des Landes junge israelische Historiker und Soziologen Einzug gehalten, die mit einer politisch neu ausgerichteten Wissenschaftlichkeit die Gründungsmythen und Dogmen des Zionismus zu demontieren begannen.
Eine geächtete Denkschule
Man nannte sie zunächst neutral "neue Historiker", schon bald aber wurde diese neue wissenschaftliche Denkrichtung unter dem Begriff "Postzionismus" subsumiert, der keineswegs als Kompliment gemeint war und in rechten israelischen Kreisen noch heute geradezu ein Schimpfwort ist.
Die Fahnenträger dieser neuen Denkschule, Historiker wie Benny Morris, Tom Segev, Ilan Pappe oder der Soziologe Uri Ram wurden von ihren Gegnern zu Verrätern gestempelt, weil sie es gewagt hatten, die israelische Geschichte und insbesondere das Verhältnis der Zionisten zu den Palästinensern kritisch zu beleuchten.
Benny Morris’ Studien über die Geburt des palästinensischen Flüchtlingsproblems enthüllten nicht nur die Systematik hinter der israelischen Politik der Vertreibung im Jahr 1948, sondern brachten auch die damit verbundenen Massaker an palästinensischen Zivilisten, die bis dahin verschwiegen worden waren, ans Licht.
Mittlerweile haben sich die Zeiten jedoch geändert: Morris ist in den letzten Jahren von seiner kritischen Haltung immer weiter abgewichen und nach rechts gerückt. Unlängst sagte er sogar in einem Interview, die gezielte Vertreibung der Palästinenser im Jahr 1948 sei, historisch gesehen, eine richtige Entscheidung gewesen. Die postzionistische Schule ist somit um einen wichtigen Mitstreiter ärmer geworden.
Politisch marginalisiert
Dass die Postzionisten im Zuge des allgemeinen Rechtsrucks in Israel seit einigen Jahren zunehmend in die Defensive geraten, davon zeugt nicht zuletzt auch ein unlängst auf englisch erschienener Sammelband mit Beiträgen ihrer wichtigsten Vertreter, die laut Untertitel "Alternativen zu Israels fundamentalistischer Politik" präsentieren.
Für sie sind die rechten Ränder der israelischen Politik längst in die Mitte gerückt – und sie selbst fühlen sich an den Rand gedrängt. Und zwar so sehr, dass sich die linksliberale israelische Zeitung "Haaretz" jüngst veranlasst sah, die Frage aufzuwerfen, ob der außerhalb Israels so hochgeschätzte Postzionismus für das intellektuelle Leben im Land überhaupt noch von irgendeiner Relevanz sei.
Der Historiker Tom Segev, durch seine Studien zur israelischen Geschichte und Gegenwart international bekannt, ist der Auffassung, dass der Postzionismus als intellektueller Trend zumindest auf Eis liege, wenn er nicht überhaupt bereits einen leisen Tod gestorben sei.
Die Schuld dafür gibt er den Palästinensern: Mit ihrer nunmehr schon mehr als drei Jahre andauernden Al-Aqsa-Intifada hätten sie jede Hoffnung auf eine gleichberechtigte Koexistenz von Juden und Arabern zunichte gemacht.
Hingegen ist der Historiker Ilan Pappe der Ansicht, für den vorläufigen Niedergang des Postzionismus seien dessen Vertreter selbst verantwortlich: Die meisten Universitätsdozenten, die noch unter der Regierung der Arbeitspartei in der Öffentlichkeit als engagierte Linke aufgetreten seien, hätten sich aus Angst um ihre Stellen in den letzten Jahren verkrochen – aus reinem Opportunismus also.
"Neozionismus" versus "Postzionismus"
Ilan Pappe, der sich im übrigen nicht nur als Post-, sondern sogar als Antizionist versteht, ist jedoch überzeugt davon, dass der Postzionismus früher oder später wiederaufleben wird, weil die Menschen in Israel die politische Barbarei des jetzigen Regimes irgendwann satt haben würden.
Allerdings sieht er in den Gegnern des Postzionismus, den "Neo-Zionisten", eine neue Gefahr. Denn sie seien im Unterschied zu den traditionellen Zionisten weit eher bereit, den jüdischen Charakter des Staates noch weiter zu stärken, und zwar auf Kosten von universellen Zivilrechten, Multikulturalität und demokratischen Prinzipien.
Die Neo-Zionisten freuen sich naturgemäß über die internen Flügelkämpfe im postzionistischen Lager. So auch der Tel Aviver Soziologe Moshe Lissak, der kein Blatt vor den Mund nimmt, wenn er die Postzionisten bezichtigt, mittlerweile ebenso dogmatisch zu sein wie jener Zionismus der Gründerzeit, gegen den sie einst zu Felde zogen.
Lissak baut indes auf eine neue Generation rechtsgerichteter Studenten, die den etablierten Postzionismus an Israels Universitäten nicht weiter dulden und nun bekämpfen wollen. Der Postzionismus, so Lissak, der als kritische Wissenschaft seinen Anfang genommen habe, sei inzwischen zu einer Ideologie verkommen.
Dieser keineswegs neue Vorwurf lässt ahnen, dass der Postzionismus in Wahrheit noch immer lebendig ist – auch wenn die israelische Rechte ihn am liebsten endgültig begraben sehen würde.
Joseph Croitoru, © Qantara.de 2004