Ein Land im Gleichschritt
Außer dem ägyptischen Pfund leidet am Nil derzeit nichts so sehr unter der Inflation wie der Begriff "Terrorismus". Er ist ein Synonym für die Muslimbruderschaft – jene Bewegung, die sich nach anfänglichem Zögern an die Spitze der Revolution von 2011 gesetzt hatte, um die ersten freien Parlamentswahlen mit mehr als 50 Prozent der Stimmen zu gewinnen. Dann stellten die Muslimbrüder den ersten demokratisch gewählten postrevolutionären Präsidenten.
Jetzt sind sie Terroristen. Eine erstaunliche Entwicklung. Presse, Rundfunk und Fernsehen sind sich einig. Täglich ist zu lesen, wie die Sicherheitskräfte in dem einen oder anderen Kairiner Viertel oder irgendwo in der Provinz zwischen Alexandrien und Aswan eine Horde Terroristen, die sich zu einer Kundgebung zusammengerottet hatten, in die Flucht schlugen.
"Ägypten ist vom Untergang bedroht. Aber es wird nicht untergehen", versichert Abd al-Fattah al-Sisi, zurückgetretener Feldmarschall, ehemaliger Chef des Militärgeheimdienstes, Putschist und Präsidentschaftskandidat. In der Presse wird er bisweilen schon der "künftige Präsident" genannt. Spätestens da ahnt man, dass der Gegenkandidat Hamdeen Sabahi nur Staffage in einem scheindemokratischen Akt ist. Die Würfel sind längst gefallen.
Der Retter Ägyptens
Sisi inszeniert sich als Retter Ägyptens. "Der Terrorismus ist unsere größte Sorge", leitet die Moderatorin eines privaten Fernsehsenders ihre Frage ein. "Wie wollen Sie Herr über den Terrorismus werden?" Da blüht Sisi auf. Vorher hatte er ein wenig unbeholfen angedeutet, dass er ein Programm für wirtschaftliches Wachstum und Entwicklung in der Schublade habe, mit dem er abgelegene Gegenden wie den Sinai, Wadi al-Gadid und die westliche Wüste voranbringen wolle. Aber das ist eigentlich nicht sein Thema. Sisi konzentriert sich auf die vollständige Ausmerzung der Terroristen.
Er verlangt von den Bürgern, die Polizei zu unterstützen. Die Bürger sollen Verständnis dafür haben, dass es bei den Razzien und Vernehmungen der Polizei auch mal zu "Übertretungen" ("tadjawuzat") komme. Medien und öffentliche Meinung sollten sich hinter die Sicherheitskräfte stellen. Die französische Journalistin Claire Talon hat erschütternde Zeugenaussagen jugendlicher Gefangener gesammelt, die während der vergangenen Monate im Gewahrsam der Polizei sexuell misshandelt wurden.
Finger am Abzug
In welcher Gefahr sich Ägypten im Sommer 2013 befand, veranschaulicht Sisi in dem Fernsehinterview mit einer Geste. Er hat den Arm ausgestreckt und zieht mit dem Zeigefinger am Abdruck einer imaginären Pistole. Damit möchte er den Ablauf eines Treffens veranschaulichen, das angeblich eine Woche vor dem Sturz der Bruderschaft und ihres Präsidenten Mursi stattfand.
Khairat El-Schater, ein führender Vertreter der Muslimbrüder, habe ihm, Sisi, diese Geste bei einem Krisengespräch unter vier Augen im Juni 2013 dargeboten. Schater habe auf diese Weise seine verbale Drohung untermauern wollen, dass man islamistische Kämpfer aus Syrien, Afghanistan und Libyen herbeirufen könne, um die Regierung zu verteidigen. Zweifelt, angesichts solcher Horrorszenarien, noch jemand daran, dass Ägypten einen Feldmarschall als Retter braucht?
Leider sei es so, teilt die Presse mit, dass die Terroristen im libyschen Exil einen neuen Angriff auf Ägypten planten. "In 70 Ländern haben sie Stützpunkte, auch in Europa", erklärt Sisi. Welche Pose am besten zu ihm passt, hat Sisi an anderer Stelle verraten. Dem Publikum vertraute er an, dass er sich im Traum mit einem Säbel in der Hand gesehen habe. Es sei richtig, das Demonstrationsrecht einzuschränken. Demonstrationen führten zu Chaos, betont Sisi.
Eine Stadt außer Kontrolle
Auf dem Tahrir-Platz, wo die Massenproteste gegen das Mubarak-Regime im Januar 2011 begonnen hatten, haben Bagger den Asphalt großflächig aufgerissen. Rohre werden verlegt und überhaupt wird auf dem Platz so fleißig gearbeitet, dass das Publikum ihn nicht betreten kann. Es könnte die beinahe einzige staatliche Baumaßnahme sein, die zur Zeit in Kairo stattfindet.
Nicht dass in Ägypten sonst nicht gebaut würde. In den schmalen Lücken zwischen bestehenden Mietshäusern und auf Dächern werden neue Mietshäuser, manchmal auch nur einzelne Räume hochgezogen. Dies geschieht jedoch abseits vom Staat, ohne jede Planung. Zwei Drittel der annährend 20 Millionen Einwohner Kairos wohnen mittlerweile in informellen Behausungen. Kairo sei eine Stadt "außer Kontrolle", sagt ein bekannter Professor für Stadtplanung.
Auf der Suche nach dem neuen ägyptischen Menschen
Doch für diese Dinge hat Sisi keine Zeit. Er räumt ein, dass Ägypten 12 Millionen Arbeitslose habe, aber außer dem Appell, dass "alle an die Arbeit müssen", fällt ihm zum Bereich Wirtschaft und Soziales nicht viel ein. Die Probleme hätten sich "aufgestaut". Man könne sie nicht "über Nacht" lösen. Schulen, Moscheen und Medien hätten die Aufgabe, "Disziplin" in der Gesellschaft zu erzeugen. Alle müssten gemeinsam, den "neuen ägyptischen Menschen" formen. Liberale und Gewerkschafter, Nasseristen und sogar Salafisten haben Sisi vorab ihre Loyalität bekundet.
Der Buchautor Hamed Abdel Samad sah in den Muslimbrüdern die Verkörperung eines "islamischen Faschismus". Wegen der Ukraine-Krise ist der Gebrauch des Begriffs "Faschismus" auf der Weltbühne zuletzt inflationär gestiegen. Dennoch ist, um die Verhältnisse in Ägypten zu beschreiben, "Mubarak reloaded" kein zutreffender Ausdruck. Man möchte, angesichts der bevorstehenden Wahl von Abd al-Fattah as-Sisi, vor einem ägyptischen Faschismus warnen.
Stefan Buchen
© Qantara.de 2014
Stefan Buchen ist Fernsehjournalist und arbeitet für das ARD-Magazin Panorama.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de