Die Verlockungen der sanften Restauration
Der Bannerträger einer Revolution sieht anders aus: Béji Caid Essebsi, bald 88-jährig, ist denkbar ungeeignet, die Werte einer Revolution zu verkörpern, die von verzweifelten und frustrierten jungen Menschen im öden Hinterland Tunesiens angestoßen worden ist. Und dennoch hat der alte Politiker, der noch unter Bourguiba als Minister und in den ersten Jahren der Ben-Ali-Diktatur als Parlamentspräsident gewirkt hatte, bevor er sich aus der Politik zurückzog, bei den Wahlen vom vergangenen Sonntag (23.11.2014) mit großem Abstand das beste Resultat erzielt. Nun wird es Ende Dezember zu einer Stichwahl kommen, in der Essebsi gegen den derzeitigen Amtsinhaber Moncef Marzouki antreten muss.
Dass ein Mann dieses Alters schon im ersten Wahlgang beinahe die absolute Mehrheit erreichen konnte, sagt viel aus über die Zustände im nachrevolutionären Tunesien. Es ist sonnenklar: Essebsi ist nicht der Vertreter einer wie auch immer gearteten Revolution, sondern der "Retter des Vaterlands", um es mit dem Pathos zu formulieren, der in Tunis gang und gäbe ist.
Tunesiens neuer alter Hoffnungsträger
Nur ihm trauen die Tunesier noch zu, das schlingernde Schiff wieder auf Kurs zu bringen, die drohenden Gefahren vom Land abzuwenden und die massiven Fehler zu korrigieren, welche die sogenannte Troika-Regierung und auch Präsident Moncef Marzouki verursacht haben. Dass sich terroristische Gruppierungen, die mit Al-Qaida liiert sind, in einer gebirgigen Gegend an der Grenze zu Algerien festgesetzt haben, ängstigt die Tunesier ebenso wie die gravierenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme.
Vor allem aber trauen viele Tunesier einzig Béji Caid Essebsi zu, der "Ennahda" und ihrem Projekt einer dauerhaften Islamisierung der Gesellschaft einen Riegel vorzuschieben. Hunderttausende dürften dem greisen Politiker ihre Stimme gegeben haben, um damit zum Ausdruck zu bringen, dass sie eine klar säkulare Gesellschaft wünschen und die Religion in einem privaten Bereich beschränkt wissen wollen.
Es braucht einige intellektuelle Verrenkungen, um den alten Herrn mit revolutionärem Gedankengut - und ganz besonders mit dieser Revolution - in Verbindung zu bringen. Manche haben es dennoch versucht. "Die Figur des alten Weisen verkörpert paradoxerweise den Mythos der Revolution und ihre Vorstellungswelt - und nicht die Konterrevolution, wie man auf den ersten Blick annehmen könnte", schrieb etwa der ehemalige Diplomat und Soziologe Farhat Othman.
Das ist, mit Verlaub, Humbug. Zwar trifft es zu, dass Béji die säkularen Werte der Revolution vertritt - wie Arbeit, Würde und Freiheit. Doch gleichzeitig gehörte und gehört er stets zum Polit-Establishment und ist denkbar weit entfernt von den unzufriedenen jungen Menschen, die die Revolution ausgelöst hatten. Dazu kommt, dass er sich zwar unter Ben Ali nicht kompromittiert hat, aber auch nie als aktiver Oppositioneller auffiel.
Die Schattenseiten des "Bourguibismus"
Nein, Béji Caid Essebsi steht für eine sanfte Restauration; nicht des Ben-Ali-Regimes, sondern des "Bourguibismus". Viele mögen darin kein Problem erblicken; unter Bourguiba wurden wesentliche Errungenschaften der tunesischen Republik geschaffen - etwa die Emanzipation der Frauen und der Aufbau eines vergleichsweise guten Bildungswesens.
An diese Zeit wieder anzuknüpfen, scheint diesen Tunesiern höchst erwünscht. Kritiker weisen allerdings darauf hin, dass auch der "Bourguibismus" seine Schattenseiten hatte und dass Tunesien unter Essebsi riskiert, eine fade Kopie der Bourguiba-Ära zu reproduzieren.
"Béji Caid Essebsi hat nicht einmal in Umrissen skizziert, wie er Tunesien aus der jetzigen Krise herausführen will und was er für Pläne für die Zukunft hat", meint etwa der Jurist Ridha Fraoua. Die Sammelbewegung "Nidaa Tounes" riskiere denn auch, schon bald nach den Wahlen auseinanderzubrechen.Andere bemängeln, dass Nidaa Tounes die säkularen Kräfte mit enormem Druck dazu bewegt habe, den "Einheitskandidaten" Essebsi zu wählen, um eine Aufsplitterung der Wählerstimmen zu verhindern. Es sei eine Schicksalswahl, lautete die Parole; entweder Essebsi oder die Islamisten. "Es ist, als hätten die Tunesier vergessen, dass der Funke, der die Revolution ausgelöst hat, die Selbsttötung eines jungen Gemüsehändlers war, der unter sozialen Ungerechtigkeiten litt", schreibt Habib Mellakh. "Die einzige Sorge scheint zurzeit die Rettung des Landes zu sein."
Opportunismus und Postengeschacher
Doch weshalb sind so viele Tunesier der Meinung, das Land benötige dringend einen Retter? Drei Gründe dürften dafür maßgebend sein: Erstens hat die islamistisch geprägte Troika-Regierung das Land in eine noch nie gesehene Krise gestürzt. Zwar ist anzuerkennen, dass nachrevolutionäre Turbulenzen auch unter einer säkular ausgerichteten Regierung unvermeidlich gewesen wären. Doch die enorme Nachsicht gegenüber gewaltbereiten islamistischen Gruppierungen hat zu gravierenden Sicherheitsproblemen geführt. Gleichzeitig hat sich der Lebensstandard der einfachen Leute in den vergangenen vier Jahren dramatisch verschlechtert. So fällt die Bilanz der Troika-Regierung schlecht aus, und die wirtschaftlichen Prognosen für die kommenden Jahre sind eher düster.
Ein zweiter, wichtiger Punkt ist die Enttäuschung über viele ehemalige Gegner des Ben-Ali-Regimes. Zeichneten sich die unter Ben Ali unterdrückten Islamisten durch Inkompetenz und ideologische Fixiertheit aus, so erwiesen sich viele der säkularen Kritiker des alten Regimes als windige Opportunisten, die auch äußerst heikle Allianzen eingingen, wenn sie ihrem Machterhalt dienten. Dies gilt insbesondere für Moncef Marzouki und für den Präsidenten der Verfassungsgebenden Versammlung, Mustapha Ben Jâafar.
Beide Politiker werden zwar in Europa gerne als "Revolutionshelden" gesehen, haben aber in Tunesien ein gewaltiges Imageproblem. Vor allem der ehemalige Menschenrechtsaktivist und Arzt Marzouki wird aufgrund seiner problematischen Amtsführung und der fehlenden Abgrenzung gegenüber "Ennahda" landesweit als "Hanswurst" und "Marionette" der Islamisten beschimpft.
"Erfüllungsgehilfe" der Islamisten
Fest steht: Marzouki mangelte es an einer minimalen Sensibilität bezüglich seiner Amtsführung. Wer gewaltbereite islamistische Prediger in den Präsidentenpalast einlädt und sich von den ebenfalls gewaltbereiten "Revolutionsschutzligen" als Kandidat empfehlen lässt, hat seinen Kredit verspielt.
Wenn Béji Caid Essebsi gewählt werde, dann würden "Ströme von Blut fließen", gab kürzlich einer der Wortführer dieser Ligen zu Protokoll. Doch dem ehemaligen Menschenrechtsaktivisten schien dies kein Grund zu sein, um sich von diesen gewalttätigen Milizen zu distanzieren. Umso mehr wollen säkulare Kräfte mit allen Mitteln verhindern, dass dieser "Erfüllungsgehilfe" der Islamisten weiterhin im Präsidentenpalast von Karthago bleiben kann.
Die Enttäuschung über den Werdegang der ehemaligen Regimegegner, aber auch über das Verhalten anderer Politiker, ist in Tunesien gewaltig. Sie hat unter der jüngeren Generation zu einem gefährlichen Desinteresse an Politik geführt. Larbi Chouika, einer der renommiertesten Analysten des Landes, hat diesen Sachverhalt wie folgt beschrieben: "Es gibt keine politische Klasse, sondern bloß Akteure mit aufgeblähtem Ego und ohne Sinn für das Gemeinwohl“, schrieb Chouika. "Dieser Kampf der Egos hat entscheidend zum gegenwärtigen Politikverdruss beigetragen".
Das Bild des starken Mannes
Die Unterstützung für den greisen Béji Caid Essebsi könnte aber, so der Verfassungsjurist Ghazi Gherairi, auch noch tieferliegende, kulturelle Gründe haben. In der Vorstellungswelt der Tunesier sei der Staatspräsident stets eine übermächtige Figur gewesen, sagt Gherairi: Übervater, Führer, Chef, oberster Kämpfer. Der Staatspräsident verkörpere zudem "die nationale Transzendenz und das staatliche Imperium".
Solche Vorstellungen dürften vor allem bei der Masse der schlecht gebildeten Menschen verbreitet sein; sie würden Essebsi zu Gute kommen und gegen Marzouki sprechen, der in den Augen vieler Tunesier die Würde seines Amtes nie verkörpert hat.
Unabhängig von solchen Erwägungen steht fest, dass der zukünftige Staatspräsident Tunesiens weit weniger Befugnisse haben wird als dereinst Ben Ali oder Bourguiba. Dies ist gewiss eine der Errungenschaften der tunesischen Revolution.
Der prunkvolle Palast von Karthago mit seinen rund 3.000 Angestellten passt nun genau genommen nicht mehr zur neuen Rolle, welche der neue Staatspräsident laut Verfassung inne hat. Doch dies dürfte das geringste Problem für den zukünftigen Inhaber des neuen Amtes darstellen.
Beat Stauffer
© Qantara.de 2014
Beat Stauffer lebt als freier Publizist in Basel. Sein Schwerpunktgebiet ist die islamische Welt und insbesondere der Maghreb.