Krieg den Palästen!
Plötzlich war einfach die Angst weg. Letzten Freitag trauten die Ägypter ihren Augen nicht, als sie fast zeitgleich in den Sozialen Medien Videos von Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz in Kairo, in mehreren anderen Stadtteilen Kairos sowie Gizas, in Alexandria, in Suez und in den Nildeltastädten Mahalla und Mansoura sahen. Die Demonstranten riefen zum Sturz von Präsident Abdel Fattah al-Sisi auf – mit den gleichen Slogans, wie einst zu Zeiten der Arabellion am Nil, als sie Mubarak zum Rücktritt aufforderten.
Es waren keine Massendemonstrationen wie beim Arabischen Frühling vor acht Jahren, manchmal war nur ein Dutzend Menschen zu sehen, manchmal waren es vielleicht ein paar hundert. Doch das eigentliche Ereignis war, dass diese Demonstrationen überhaupt stattfanden. "Habt keine Angst, Al-Sisi muss weg!" lautete eine der Parolen der Demonstranten.
Mut zum Aufbegehren
Jahrelang hatte es der ägyptische Sicherheitsapparat geschafft, ein allgemeines Demonstrationsverbot mit harter Hand durchzusetzen. Wer in Ägypten auf der Straße demonstriert, geht bis heute ein hohes persönliches Risiko ein, verhaftet und für Jahre weggesperrt zu werden. Den meist sehr jungen Menschen, die auf den Demonstrationen zu sehen waren, schien das jedoch egal zu sein.
Mindestens 74 Menschen wurden verhaftet, berichtete die Nachrichtenagentur AFP unter Berufung auf Sicherheitskreise. Doch das hielt einige Jugendliche nicht davon ab, am vergangenen Samstag in Suez erneut zu demonstrieren, bevor sie mit Tränengas auseinandergetrieben wurden. Auf dem Tahrir-Platz in Kairo sorgte dagegen von Anfang an eine hohe Präsenz der Sicherheitskräfte dafür, dass sich die Ereignisse vom Freitag nicht am Samstag wiederholen konnten.
Motiviert wurden die Proteste von einem Phänomen, das das Land am Nil nun seit zwei Wochen in Atem hält. Ein bis dahin kaum bekannter Bauunternehmer namens Mohamed Ali, der 15 Jahre lang als Subunternehmer für die ägyptische Armee gearbeitet hatte und heute in Spanien lebt, begann auf Videos in den Sozialen Medien aus dem Nähkästchen zu plaudern.
Ein Whistleblower aus Armeekreisen
Wie ein Whistleblower aus dem inneren Kreis der umfangreichen Geschäftstätigkeiten der Armee, gab er mutmaßliche Details über Milliarden ägyptischer Pfunde an Immobiliengeschäften preis und klagte Al-Sisi persönlich mit pikanten Details an, große Summen Geldes für dessen Präsidentenpaläste zu verschwenden.
Ali selbst, der an diesen Geschäften mitverdient hat, aber nun offensichtlich ungehalten ist, weil ihm die Armee einiges Geld schuldet, kommt dabei wenig sympathisch rüber. Aber er spricht in einem volkstümlichen Tonfall, der für alle in Ägypten verständlich ist.
Die Ägypter begannen die Videos in Massen anzuklicken und warteten jeden Tag begierig, wie bei einer Fernsehserie, auf die Fortsetzung. Doch damit nicht genug. Mit dem Eis gebrochen outen inzwischen weitere Menschen die finanziellen Machenschaften Al-Sisis und des Militärs, bestätigen zum Teil Mohamed Alis Anschuldigungen und erheben sogar neue.
"Ihr lebt in Palästen, wir leben von Müllhalden"
In einem Land, in dem - laut einer jüngst veröffentlichten staatlichen Statistik - jeder dritte Ägypter unter der Armutsgrenze von etwas weniger als eineinhalb Euros am Tag lebt, traf die Geschichte des für Präsidentenpaläste verschwendeten Geldes offensichtlich einen Nerv. "Warum lebt er in Palästen, während wir von Müllhalden fressen?", schrie eine Frau am Rande einer Demonstration in eine Handykamera, bevor sich auch dieses Video auf den Sozialen Medien verbreitete.
Echoing Mohammed Ali’s videos about El-Sisi’s corruption, an Egyptian woman tells the camera: “Why is he living in palaces while we eat from dumpsters?” pic.twitter.com/kRTporaBSa
— Hassan Hassan (@hxhassan) 22. September 2019
Al-Sisis bislang einzige Reaktion auf die Proteste trug indes wenig dazu bei, die Wogen zu glätten. "Ich habe Paläste gebaut - und ich werde noch mehr bauen". Denn die seien nicht für ihn, sondern für den neuen Staat, erklärte er. "Jemand möchte dich diffamieren, dir Angst machen und das zunichtemachen, was die Streitkräfte für Ägypten geleistet haben", so der Präsident, um dann noch hinzuzufügen: "Das ist Ägyptens Armee, das ist Ägyptens Armee, das ist Ägyptens Armee – das Zentrum der Schwerkraft für Ägypten und die ganze Region." Zu den konkreten Anschuldigungen bezog er jedoch mit keinem Wort Stellung.
Dass es Mohamed Ali mit seinen Videos gelang, die Proteste auf Ägyptens Straßen - wenngleich in kleinem Ausmaß - wiederzubeleben, hat in Ägypten wohl kaum jemand für möglich gehalten. Völlig unklar ist, wer die fast zeitgleich ablaufenden Proteste vom vergangenen Freitag koordiniert hat. Die kleine verbliebene Opposition war von den Demonstrationen ebenso überrascht wie die einstigen Tahrir-Aktivisten.
Ein Indiz für interne Machtkämpfe?
Viele spekulieren, dass innerhalb der Armee, der Sicherheitskräfte und des Regimes ein Machtkampf über den weiteren Kurs Ägyptens und das Schicksal Al-Sisis ausgebrochen sein könnte. Der Subunternehmer Mohamed Ali sei hier nur eine Marionette, vermutet man. Auch die Proteste seien von dieser Seite organisiert worden.
Dass der ehemalige Stabschef und einstige einflussreiche präsidiale Gegenkandidat Al-Sisis, Sami Anan, sich vermeintlich zu Wort meldete, befeuerte die Spekulationen nur noch weiter an. Anan verbüßt eine zehnjährige Haftstrafe, die er mittlerweile in einem Militärkrankenhaus absitzt. Auf seiner Facebook-Seite rief er den Verteidigungsminister Muhammad Zaki dazu auf, Al-Sisi zu verhaften, wenngleich Anans Tochter inzwischen abgestritten hat, dass dieser Aufruf von ihrem Vater stammt. Tatsache bleibt, dass es rund um Mohamed Ali und die Proteste mehr Fragezeichen als Antworten gibt.
Aber selbst wenn das Ganze von einem Teil innerhalb des Regimes, der Streitkräfte oder von einstigen Mubarak-Leuten gelenkt sein sollte, könnten die Geschehnisse eine Dynamik entwickeln, die am Ende von niemandem mehr kontrolliert werden. Das gilt umso mehr, als an anderen Orten in dieser politisch vermeintlich stillstehenden Region, etwa im Sudan oder in Algerien dieses Jahr einiges in Bewegung geraten ist. Besonders die im Sudan mit den Militärs vor wenigen Wochen ausgehandelte Einsetzung einer zivilen Übergangsregierung wird auch in Ägypten mit großem Interesse verfolgt.
Mit Al-Sisis Besuch in New York im Vorfeld der UN-Vollversammlung, warten im Moment alle in Ägypten ab, was als nächstes geschieht. Mohamed Ali produziert indes munter weiter neue Fortsetzungen seiner Videos. In der letzten Episode rief er zu weiteren Protesten am nächsten Freitag auf.
Karim El-Gawhary
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