Zonen der Angst

Die Diskussion um No-Go-Areas in Ostdeutschland zeigt: Die Deutschen sind keineswegs so aufgeklärt, wie es der eine oder andere antimuslimische Kulturkämpfer gerne sähe.

Kommentar von Eberhard Seidel

​​Parallelgesellschaften, national befreite Zonen, Ehrenmorde, Rütli-Schule, Neonazis, muslimische Machojungs – jede Woche neue Schreckensmeldungen aus den Niederungen der Republik.

Kaum hat das Publikum begriffen und akzeptiert: Die arabischen und türkischen Machojungs sind die schlimmen Finger der Nation. Sie bedrohen unsere Zivilgesellschaft. Dann dies: No-go-Areas in Deutschland!

Die Behauptung des ehemaligen Regierungssprechers Uwe-Karsten Heye, in Deutschland gebe es Orte, die Menschen, die wegen ihres Aussehens für Fremde gehalten werden können, meiden sollten, "weil sie die möglicherweise nicht wieder lebend verlassen", wird in diesen Tagen so manchen ärgern.

Sensibilisierung für rassistische Gewalt

Man hört sie schon: Nun beginnt also wieder die Selbstgeißelung der Deutschen, das Wühlen im deutschen Schuldkomplex, die Dämonisierung eines Rassismus, der hierzulande doch auch nicht schlimmer ist als bei unseren Nachbarn.

Man möchte ihnen zurufen: Warum die Aufregung? Heye formuliert lediglich, was die potenziellen Opfer rassistischer Gewalt längst verinnerlicht haben.

Und kaum eine Berliner Schulklasse mit interkultureller Schülerschaft fährt in das Brandenburger Umland, bevor nicht folgende Fragen geklärt sind: Wie sicher ist das Landschulheim? Gibt es eine örtliche rechte Szene? Wie lautet die Telefonnummer der nächsten Polizeistation? Seit sechzehn Jahren ist das so. Nichts Besonderes – Alltag in Deutschland.

Es tut gut, dass nach Monaten des dröhnenden, ätzend kulturalistischen "Muslimbashings" der Blick geweitet ist und für einen Moment wieder für alle sichtbar wird: Wir, die Deutschen, sind keineswegs so aufgeklärt und vom Antizivilisatorischen gereinigt, wie es der eine oder andere antimuslimische Kulturkämpfer gerne sähe.

Aber auch Aktivisten der Antirassismusfront, von denen sich einige seit Tagen die Hände reiben, weil Heye nach ihrem Geschmack mit den richtigen Worten das richtige Thema auf die Agenda setzte, sollten einen Moment innehalten. Denn die Lage ist weitaus brisanter, als es der ehemalige Regierungssprecher nahe legt.

Klima der Angst

Zonen der Angst gibt es viele – nicht alle liegen im Osten der Republik, und nicht alle werden von Rechtsextremisten okkupiert. Auch dies könnte und muss eine Warnung für die Gäste in Deutschland sein:

Juden mit Kippa und Schläfenlocken oder einem offen zur Schau getragenen Davidstern sollten sich in Einwanderervierteln mit einem hohen Anteil muslimischer Jugendlicher nicht allzu unbefangen bewegen. Und Schwule wissen: Die öffentliche Demonstration ihrer sexuellen Orientierung ist in den rechten Hochburgen Ostdeutschlands wie auch in bestimmten innerstädtischen Straßenzügen westdeutscher Großstädte nicht ratsam.

Was häufig als Gegensatz diskutiert wird, gehört zusammen. Die Angstzonen in Berlin-Neukölln, Wedding oder in Ostdeutschland haben mehr miteinander zu tun, als viele wahrhaben wollen. Seit zwanzig Jahren, spätestens seit der Wende 1989, sind ganze Stadtviertel und Regionen von der Reichtumsproduktion und damit von Konsum ausgeschlossen.

Wer eine Aufstiegsperspektive für sich sieht, egal ob Migrant oder Deutscher, sucht, so schnell er kann, das Weite und den Anschluss an prosperierende und konsumfreudige Regionen.

Sozial entgrenzte Zonen

Zurück bleiben Sozialmilieus, die nur noch wenig mit den materiellen Standards und kulturellen Codes der tonangebenden Mittelschichten verbindet. In keiner der Zonen, die es in den zurückliegenden Monaten in die Schlagzeilen schaffte, liegt die reale Arbeitslosenrate unter 30, 40 Prozent.

Die Menschen wissen längst, was kein Politiker öffentlich zugeben mag: Die Gesellschaft braucht einen Großteil der Bevölkerung in diesen Angstzonen nicht mehr. In der Ökonomie gibt es keinen Platz für sie. Heute nicht und auch morgen nicht – nicht einmal in der Armee. Die Ära der Bauhelfer, Bandarbeiter, Stahlkocher, Bergleute und Infanteristen ist Geschichte.

Natürlich ist all dies kein Freibrief für Rechtsradikalismus, für Antisemitismus, Schwulenhass, Deutschenfeindlichkeit, Rassismus und Islamismus. Auch gibt es keinen Automatismus nach dem Motto: So was kommt von so was. Und tatsächlich nehmen die meisten – vor allem Frauen und Ältere – ihr Elend hin.

Auf der anderen Seite muss zur Kenntnis genommen werden: Es sind vor allem die jungen Männer, die versuchen, Herr der eigenen Geschichte zu bleiben – allzu häufig mit untauglichen Mitteln.

Und eine Regel in bildungsfernen, organisationsschwachen, ressourcenarmen Milieus, die weder von den Gewerkschaften noch von einer demokratischen Linken mit ihrem Egalitätsversprechen erreicht werden, lautet: Wer sonst nichts hat, der greift schnell mal auf das zurück, was ihn von Geburt an zuzukommen scheint – also Religion, ethnische Zugehörigkeit, das Blut, die Heterosexualität.

In diesen Zonen der Angst erlangen junge Männer mit normüberschreitenden, häufig gewaltorientierten Handeln das höchste Maß an Aufmerksamkeit. In gewisser Hinsicht ist ihr Handeln deshalb rational. Sie haben gelernt: Mittel für Jugendeinrichtungen, für die Ausstattung einer Schule oder für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen fließen dann am üppigsten, wenn die Zahl rassistischer Übergriffe, von Gewalttaten oder die Wählerstimmen für rechtsradikale Parteien eine kritische Marge überschritten haben.

Aber die bürgerlichen Schichten haben diesen Milieus wenig zu bieten. Keinen Willen zur Umverteilung der Arbeit, keine Ideen für eine Gesellschaft, der die Arbeit ausgeht.

Kulturalistische Debatten als Ausweg

Ein Ausweg aus diesem Dilemma sind kulturalistische Debatten. Bei Migrantenjugendlichen wird nicht mehr nach gesellschaftsbedingten Ursachen für normabweichendes Verhalten geforscht, sondern es wird mit ethnischen Eigenarten, islamischen Besonderheiten und vormodernem Denken erklärt.

Ähnlich verfährt man im Osten Deutschlands. Dort werden die Zustände immer noch gerne allein aus dem Erbe der DDR abgeleitet. Übersehen wird, dass die "Troublemaker" überwiegend im vereinten Deutschland sozialisiert wurden.

Die Versuchung ist groß, Probleme dieses Landes als geografisch und historisch importierte zu definieren. Das verschafft der (westdeutschen) Mehrheitsgesellschaft moralische Überlegenheit und erspart ihr die Anstrengung, die Fäulnis im eigenen Fundament näher zu betrachten.

Mit einer solchen Perspektive ist trefflich Stimmung, auf Dauer aber kein Staat zu machen. Denn dieses Land wird weder seine auffällige Ostjugend noch seine ungehobelte Migrantenjugend los, sosehr dies einige wünschen oder im Falle der "Ausländer" auch fordern mögen.

Eberhard Seidel

© Qantara.de 2006

Qantara.de

Zwangsehe und Ehrenmorde
Perfide Diskussion
Die Türken in Deutschland haben andere Probleme als Ehrenmorde und Zwangsverheiratungen. Sie plagen Arbeitslosigkeit und soziale Ausgrenzung, schreibt die Migrationsforscherin Ülger Polat in ihrem Kommentar.

Saithan & Sinan
Kampagne gegen Ehrenmorde und Gewalt
Zwei junge Berliner Türken protestieren mit einer Postkartenaktion gegen so genannte Ehrenmorde. Neben positiven Reaktionen und starkem Medieninteresse, sorgt die Kampagne jedoch auch für Spannungen. Ariana Mirza unterhielt sich mit Initiatorin Güner Y. Balci und dem 16-jährigen Saithan über sein Engagement.

Einwanderungspolitik in Großbritannien
Erfolgreiche Integration statt Parallelgesellschaft
Die Terror-Anschläge in London vom 7. Juli 2005 haben die multikulturelle Gesellschaft im Vereinigten Königreich auf die Probe gestellt. Doch das Beispiel des Londoner Vorortes Southall zeigt, dass durch ein kommunales Netzwerk aller ethnischen Gruppen erfolgreiche Integrationsarbeit geleistet werden kann. Von Petra Tabeling