Ein eigenes Profil im Konzert der Überzeugungen
In dem Kinostreifen "Luther" aus dem Jahr 2003, in dem Joseph Fiennes den Reformator spielt, trifft der Augustiner-Mönch den römischen Kardinal Cajetan, vor dem er um Vergebung bitten und von seinen neuen, extravaganten Lehren ablassen soll.
Eine Stelle im Gespräch der beiden Kirchenmänner ist bezeichnend für die Zeit, in der sich die Reformation abspielen würde: im Westen, so der Kardinal, sei eine neue Welt entdeckt worden, "die den Namen Christi" nicht kenne, gemeint ist die "Entdeckung" Amerikas 1492. Im Osten, so Cajetan weiter, belagerten die Türken das christliche Abendland. In einer solchen Situation sei Geschlossenheit gefragt, Einheit, keine Sperenzien und keine theologischen Alleingänge, die von der kirchlichen Lehre abweiche. Luther zeigte sich unbeeindruckt – und der Rest ist Geschichte.
Martin Luther mag mit vielem nicht übereingestimmt haben, was Thomas Kardinal Cajetan ihm gegenüber während ihrer dreitägigen Unterredung in Augsburg vertrat. Was aber die Bewertung der muslimischen Türken anbelangte, so passte zwischen die beiden kein Blatt Papier.
Historisch gewachsene Ablehnung der Muslime
Luther machte nie Anstalten, seine Ablehnung gegen die muslimischen Türken zu verbergen. Wenn es um den Glauben der Christen und der Muslime gehe, so der Reformator, dann hätten die beiden gar nichts gemeinsam, mit nur einer Ausnahme: den Glauben an das Jüngste Gericht. Das Zeitalter der Reformation führte zu Jahrhunderte andauernden, un-christlichen Hass zwischen den Konfessionen. Die Ablehnung aber des gemeinsamen islamischen Feindes, der wiederholt vor den Toren Wiens auftauchen sollte, einte die ansonsten uneinen Glaubensgeschwister.
Wie sieht es in der Gegenwart aus? Auch heute sind Muslime häufig diejenigen, auf die gezeigt wird. Auch heute hat Europa Angst vor ihnen und fürchtet, dass die einstmals so gepflegten Eroberungsphantasien noch immer virulent und lebendig seien. Dabei sind es allerdings nicht die Kirchen, die im Islam und in Muslimen die Gefahr für den Fortbestand der europäischen Kulturwelt sehen. Ein überwältigendes Engagement für Flüchtlinge, die meist muslimischen Glaubens sind, die Aufforderung des Papstes, Flüchtlingen aus Syrien, ebenfalls Muslime, beizustehen, spricht eine andere Sprache.
Es sind vielmehr politische Bewegungen überall in der Alten Welt, die das christliche Abendland, das freie Europa, als vom Islam bedroht sehen. Sicher gibt es in der arabischen ebenso wie in der türkischen Kulturwelt weit verbreitete Unterwerfungsphantasien, die in grotesken Videoanimationen von IS-Propagandisten münden, die die Eroberung und den Untergang der Stadt Rom und damit das Ende des Christentums ankündigen. Sicher kann der Frömmste nicht im Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt. Aber letztendlich spielt ein Eingehen auf die dramatischen Übertreibungen nur den Hardlinern aller Seiten in die Hände.
Ein eigenwilliges Produkt der europäischen Geschichte
Allein die kurze Episode aus dem Luther-Film zeigt, dass es so einfach nicht ist zu behaupten, dass der Islam schon immer zu Europa gehört habe. Europa ist auch heute noch, 500 Jahre nach dem Thesenanschlag Martin Luthers, ein christlich geprägter Kontinent. Es ist ein eigenwilliges Produkt der europäischen Geschichte, eine Dialektik, wenn man so will, dass aus dem religiösen Übereifer und dem Mord und Totschlag des Dreißigjährigen Krieges, ein säkulares und am Ende auch aufgeklärt-liberales Europa wurde, dass für religiösen Wahn nicht mehr auf die Schlachtfelder zieht.
Dieses Jahr ist der Reformationstag zum ersten Mal ein bundesweiter Feiertag. Auch dies belegt die einzigartige Verknüpfung der christlichen Religion mit dem modernen Europa und dem Deutschland der Gegenwart. Auch im Osten des Landes konnten zwei gottlose Ideologien, der Nationalsozialismus und der Kommunismus, dem Christentum nicht den Garaus machen.
Die Wartburg, auf der Martin Luther die Heilige Schrift ins Deutsche übersetzte und damit die Grundlage für die heutige Hochsprache legte, ist Weltkulturerbe. Der Wormser Dom, in dessen Schatten der Reformator seine Thesen vor Kaiser Karl V. verteidigte, wird im kommenden Jahre seine Tausendjahrfeier begehen.
Es gibt kein islamisches Bauwerk in Europa, das auf eine solche Geschichte verweisen könnte. Die Wormser Domkirche blieb, das ist ein kurioses Faktum der verwobenen Religionsgeschichte Deutschlands, Zeit ihres Bestehens katholisch. Die Wormser Stadtbevölkerung konvertierte zwar geschlossen zur neuen Lehre, baute sich gegenüber der alten Kirche und der Kaiserpfalz ihre neue spirituelle Heimat, die Dreifaltigkeitskirche. Wenn am Reformationstag in Worms die Glocken läuten, dann klingen sie auch von solchen Türmen, die schon zu Luthers Zeiten standen, christliche Bauwerke, die die Zerstörung der Stadt im Erbfolgekrieg 1689 und die Bombennächte des Zweiten Weltkriegs überlebt haben.
Bibel und Koran stehen nicht über der Verfassung
Gehört der Islam zu Deutschland? Ja, er gehört heute ohne wenn und aber dazu, wegen der dreieinhalb Millionen Muslime, die im Land leben und weil sie ihren Glauben auf dem Boden des Grundgesetzes ausüben dürfen. Es ist übrigens auch so, dass das Christentum heute nur deshalb zu Deutschland gehört, weil es sich zu dieser neuzeitlichen-freiheitlichen Ordnung bekennt und darin sein religiöses Leben entfaltet.
Die Bibel steht nicht über der Verfassung, der Koran auch nicht. Darin liegt die gegenwärtige Äquidistanz der Religionen gegenüber der säkularen freiheitlichen Ordnung des deutschen Staatswesens. Geschichtlich betrachtet sieht das anders aus: Das komplexe Einander von Christentum und staatlicher Herrschaft sorgt für einen de facto Vorrang des Christlichen vor anderen Religionen. Das ist wohlgemerkt ein kultureller Vorrang und keiner, der dadurch konstituiert würde, dass der deutsche Staat sagt, dass der christliche Glaube wahrer sei als andere religiöse Bekenntnisse.
Für die Zukunft wird einzig entscheidend sein, ob Menschen, die Religionen in Europa, in Deutschland, praktizieren, in der Lage sind, ihre Überzeugungen fruchtbar zu machen für das Ganze, die Gemeinschaft, die über sie selbst, über die Zugehörigkeit zu ihrer Kultusgemeinschaft, hinausweist.
Es gehören die Religion zu Deutschland, die ein eigenes Profil im Konzert der Überzeugungen ausprägen und Identität stiften können, ohne die anderen dabei zu dämonisieren oder herabzuwürdigen. Eine Religion, die diese Rolle, die ihr die Rechtsordnung Deutschlands zuschreibt, nicht ausfüllen und spielen möchte, gehört nicht dazu – egal welche.
Alexander Görlach
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