In den Fängen der Politik

Der Niedergang von traditionellen religiösen Institutionen führte weltweit zum Aufstieg des politischen Islam und des Extremismus. Die Al Azhar ist die letzte Bastion des pan-islamischen Rationalismus und darf nicht in die Hände von Extremisten fallen. Ein Kommentar von Hassan Hassan

Essay von Hassan Hassan

Der sich verbreitende Extremismus in muslimischen Gesellschaften in den letzten Jahrhunderten kann auf eine weitgehend unbeachtete Entwicklung zurückgeführt werden: Den Niedergang religiöser Institutionen mit einst globaler Reichweite.

Eine Reihe von folgenschweren Ereignissen veranlassten die einst moderat, pluralistisch und transnational ausgerichteten Lehrzentren, sich nur noch lokal und nach Innen auszurichten: Dazu zählen die Abschaffung des Kalifats in Istanbul, die Besetzung Jerusalems, die Monopolisierung der wahhabitischen Ideologie in Mekka und Medina, die Dominanz der Khomeini-Doktrin in Qom, dem Zentrum schiitischer Gelehrsamkeit im heutigen Iran, sowie die Schwächung von Najaf, dem Zentrum schiitischer Lehre im heutigen Irak, durch Anhänger Khomeinis und der Baath-Partei. Diese Ereignisse hatten zur Folge, dass der Einfluss dieser religiösen Zentren in vielerlei Hinsicht in einen bedeutungslosen Provinzialismus aufging.

Politisierung einer religiösen Institution

Die Al Azhar-Universität in Ägypten, die höchste Lehrinstanz des sunnitischen Islams und wohl letzte Bastion des pan-islamischen Rationalismus, scheint nun einem ähnlichen Schicksal entgegenzublicken. Die neue ägyptische Verfassung, welche in einem Volksreferendum im Dezember 2012 anerkannt wurde, gewährt der Al Azhar in kodifizierter Form Unabhängigkeit und Einfluss als beratende Instanz bei Fragen über die Scharia-Konformität von bestimmten Gesetzen und politischen Handlungen.

Der ägyptische Präsident Mursi besucht die Azhar-Moschee zum Freitagsgebet am 29. Juni 2012, neben ihm der Großscheich der Azhar, Ahmad Al Tayeb; Foto: Reuters
Vom Zentrum in die Provinz: Die verfassungsmäßig verankerte Rolle der Al Azhar schützt sie nicht vor der ideologischen Übernahme von politisch Gelenkten Islamisten.

​​Ironischerweise aber werden diese Bestimmungen sowohl dem globalem Ansehen der Al Azhar, als auch ihrem religiös moderaten Stanpunkt schaden, denn auch sie wird in Zukunft in lokale politische Zankereien und religiöse Rivalitäten hineingezogen werden.

Mit dieser Verfassung ist die Al Azhar, einst eine in Ägypten ansässige, aber überregionale islamische Institution, nun offiziell in Ägyptens politisches System eingegliedert und damit eine ägyptische Institution. Religiöse Gruppierungen werden versuchen, das Zentrum zu übernehmen, um dort ihre eigenen Ideologien zu verbreiten und dadurch ihre politische und religiöse Position zu stärken. "Unabhängigkeit" bedeutet in diesem Falle nicht Souveränität oder Schutz vor Übernahmen.

Die Al Azhar wurde 972 als religiöse Bildungsinstitution von der schiitischen Dynastie der Fatimiden mit dem Zweck gegründet, die ismailitische Glaubenslehre zu verbreiten. Drei Jahre später wurde sie in eine Universität umgewandelt. Seit dieser Gründungsphase bereits war die Institution unter dem wachsamen Auge des Staates in die Angelegenheiten Ägyptens involviert.

Der letzte Khedive Ägyptens, Abbas Hilmi Pascha, forderte, dass die Al Azhar sich aus dem politischem Geschäft heraushalten und stattdessen der "brauchbaren religiösen Erkenntnis" widmen solle, denn in erster Linie sei sie eine religiöse Institution.

Salafitische Usurpation

Zum ersten Mal wurde die Al Azhar nach dem Sturz der Monarchie am 23. Juli 1952 offiziell in den Staat integriert. Damals wurde ihre Funktion und Finanzierung rechtlich festgelegt. Gamal Abdel Nasser beauftragte die Al Azhar damit, "die Öffentlichkeit aller islamischen Länder gegen Israel und die Kolonialmächte zu mobilisieren". Doch trotz der politischen Einmischungen dieser Art hatte kein Herrscher oder Besatzer jemals versucht, die grundlegende Doktrin der Al Azhar zu überarbeiten oder zu revidieren, die seit der Übernahme der sunnitischen Glaubenslehre im 12. Jahrhundert Bestand hatte. Die frühen muslimischen Herrscher – Ayyubiden, Mamluken und Ottomanen – ließen die Al Azhar frei gewähren oder griffen zumindest nicht in ihr Lehrsystem ein.

Azhariten demonstrieren am 09. Februar 2011 auf dem Tahrir-Platz für Demokratie und Freiheit; Foto: dpa
"Seit Jahrhunderten ist es die ascharitische Schule, die den Extremismus in der islamischen Gesellschaft zügelt", schreibt Hassan Hassan.

​​Heute hat sich die Situation mit dem Aufstieg der Islamisten in Ägypten verändert. Die Pläne kompromissloser Gelehrter, die Kontrolle über die Azhar-Universität zu erlangen, sind wohl bekannt. In einem im Dezember veröffentlichten Video gab Sheikh Yassir Al-Borhami, ein führender Abgeordneter der salafitischen Bewegung "Ad-Da'wa As-Salafiya", einen Plan zur konstitutionellen Verdrängung des Oberhaupts der Al Azhar bekannt.

Diese Institution ist einfach zu wichtig, um in die Hände von Extremisten zu fallen. Die Universität hat Zweigstellen in den Vereinigten Staaten, dem Vereinigten Königreich, Indonesien, Indien, Pakistan, Malaysia, Somalia, dem Sudan, Palästina und Kuwait. Azharitische Gemeinden existieren in der gesamten islamischen Welt, von Mauretanien bis Indien, und sind zuverlässige Vertreter von Toleranz, Koexistenz und Dialog. Al Azhar beruft sich auf die religiöse Doktrin der ascharitischen Schule, die im 10. Jahrhundert die Rationalisierung der islamischen Theologie vorantrieb.

Da die Azhariten nicht global organisiert sind, wird die jetzige Rolle der Al Azhar in Ägypten voraussichtlich ihre Zweigstellen und Gemeinden in anderen Ländern schwächen und sie für lokale Einflüsse empfänglich machen. Wahhabitische und salafitische Ideologien verbreiten sich bereits im Eiltempo in der muslimischen Welt, parallel zum Aufstieg von Islamisten in der Politik mehrerer Länder des Mittleren Ostens. In Ländern wie Syrien, in denen ein Machtwechsel stattfindet, werden die azharitischen Gemeinden voraussichtlich von Predigern und Gelehrten, die dem Salafismus nahe stehen, überschattet.

Ascharitische Schule als Garant für Mäßigung

Traditionell war die Al Azhar als religiöse Autorität stets ein Gegenpol zu Fundamentalismus und konfessionellen Trends. Jahrzehntelang wurde Gruppierungen wie den Muslimbrüdern ein "gemäßigter Islam" nachgesagt, doch wahre Mäßigung wird von grundlegend rationalen Institutionen wie der Al Azhar repräsentiert. Die Muslimbrüder und ihre Verbündeten vertreten keine Ideologie der Mäßigung und Rationalität. Die Muslimbruderschaft ist im Grunde ein Strang des Salafismus und nur in Hinsicht auf ihre Taktiken pragmatisch; ihre Anfälligkeit für Extremismus, Fundamentalismus und Sektierertum ist klar ersichtlich. Viele überzeugte Mitglieder der Bruderschaft vertreten extremistische und sektiererische Ansichten und mit ihnen angegliederte Gruppierungen unterstützen Gewalt als eine politische Strategie.

Großscheich der Al Azhar, Ahmad Muhammad Al Tayeb; Foto: Reuters
Der aktuelle Großscheich der Azhar, Ahmad Muhammad Al Tayeb, war zuvor Rektor der Azhar-Universität. Bereits in seiner Funktion als Rektor der Universität warb er, auch in Europa, für einen ehrlichen Dialog zwischen den Religionen.

​​Al Azhar, auf der anderen Seite, ist eine wahrhaft rationalistische und moderate Schule. Würden extremistische Ideologien die Institution übernehmen, so würden sie sich wahrscheinlich in ihren Lehrplan einmischen und dies könnte weltweite Folgen haben: Seit Jahrhunderten ist es die ascharitische Schule, die den Extremismus in der islamischen Gesellschaft zügelt.

Besonders Besorgnis erregend ist die Tatsache, dass der Niedergang der Al Azhar Teil einer allgemeinen Entwicklung ist, die mit dem Aufstieg von religiösem Extremismus einher geht. Mekka und Medina waren einst Orte, an denen Muslime durch Lehrzirkel, die alle Schulen vertraten, Toleranz und Koexistenz verbreiteten. Heute haben nur Wahhabiten, die eine strenge Befolgung ihrer Definition des Islam verlangen und traditionelle, pluralistische Strömungen ausschließen, Zugang zu diesen Zirkeln.

Eine ähnliche Entwicklung ist in Najaf, Qom, Damaskus und anderen Zentren der Gelehrsamkeit eingetreten. Einst beteten in Jerusalem Muslime verschiedener Konfessionen gemeinsam mit Anhängern anderer Glaubensrichtungen. Diese Zentren wenden sich nun vor allem an das lokale Umfeld, sie unterliegen den lokalen politischen Ereignissen und folgen daher einem begrenzten religiösen Verständnis.

Dieser Trend der Provinzialisierung von islamischen Institutionen hat eine schwere religiöse Krise hervorgerufen, die sich vertiefen könnte, sollten die Institutionen weiterhin an globaler Reichweite einbüßen. Dennoch wurde bisher wenig getan, um ihren Niedergang aufzuhalten.

Hassan Hassan

© Qantara.de 2013

Hassan Hassan ist Kolumnist von The National in Abu Dhabi und Autor für The Guardian, Foreign Policy und Carnegie Endowment.

Übersetzung aus dem Englischen: Laura Overmeyer

Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de