Was ist Gerechtigkeit?
Ohne etwas zu beschönigen, räumt der aus Indien stammende britische Jurist Sadakat Kadri mit dem im Westen verbreiteten Missverständnis auf, Scharia bedeute nichts anderes als die Einführung brutaler, vormoderner Körperstrafen.
Ursprünglich heißt Scharia nichts anderes als "Weg zur Quelle", übertragen dann "Weg zum guten (muslimischen) Leben". Dabei ist wichtig zu wissen, dass die Scharia ein Konzept ist, kein klar definierter Korpus von Rechtsvorschriften, der losgelöst von einzelnen Rechtsschulen oder individuellen Auslegungen (wie etwa durch Salafisten) existiert. Sinngemäß wäre die beste Übersetzung: "religiös sanktionierte Gerechtigkeit".
Auch war die Scharia nicht gleich mit dem Entstehen des Islams in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts in der Welt, sondern hat sich erst in den folgenden beiden Jahrhunderten herausgebildet und ist bis heute zahlreichen Veränderungen unterworfen. Der Koran selbst reicht als Grundlage bei weitem nicht aus. Im Laufe der Zeit traten daher Berichte über Taten und Aussagen des Propheten als Rechtsgrundlage hinzu, die sogenannte Hadith-Literatur.
Kein Spielraum für Interpretationen: Ibn Taimiyya
Charakteristisch sind auch die vier Rechtschulen, die sich jeweils auf ihre Gründerväter und verschiedene, teils lokale fundierte Traditionslinien berufen. Jenseits dieser Rechtsschulen positionieren sich die Salafisten, die unter Umgehung der historischen Gewordenheit der Scharia einen unmittelbaren Zugang zur islamischen Frühzeit behaupten. Sie gehen davon aus, dass man alles Überlieferte wörtlich nehmen kann und dass es keinen Spielraum für Interpretationen gebe. Der Vordenker dieser Strömung war Ibn Taimiyya (1263-1328).
Dieser salafistische Rechtsfundamentalismus ist jedoch erst in jüngerer Zeit populär geworden. Er prägt zwar den heutigen Diskurs über den Islam, bestimmt die tatsächliche Rechtspraxis und Politik jedoch nur in Ausnahmefällen. Selbst in Ländern, in denen offiziell die Scharia gilt, wird, so berichtet Kadri, oft versucht, die härtesten Strafen (sogenannte Hadd-Strafen) zu vermeiden.
Um einer wieder schwanger gewordenen Witwe den Vorwurf eines unehelichen Geschlechtsverkehrs und damit die Steinigung zu ersparen, wurden zum Beispiel in Nigeria eine Rechtsfiktion erfunden: Es könnte ja sein, dass eine Schwangerschaft in Wahrheit mehrere Jahre dauert, so dass die Frau noch von ihrem vor Jahren verstorbenen Ehemann schwanger geworden sein könnte.
Dies geschieht nicht zuletzt aufgrund der Überzeugung, dass die Herstellung der absoluten Gerechtigkeit nicht Menschensache ist, sondern nur von Gott selbst bewerkstelligt werden kann – zumal selbst scheinbar festgelegte Vorschriften auslegungsbedürftig sind.
Wenn zum Beispiel die Scharia in Gestalt einer Vorschrift aus dem Koran sagt, einem Dieb müsse die Hand abgehakt werden, so muss zunächst einmal Diebstahl definiert werden – gehört etwa Steuerbetrug auch dazu? Da, wie dieses Beispiel zeigt, absolute Gerechtigkeit kaum je herstellbar ist, erscheint es oft besser, die ebenfalls im Koran gebotene Barmherzigkeit walten zu lassen, und genau das war in der Geschichte die vorherrschende Praxis.
Rechtsfiktionen kategorisch ablehnen
Zu Recht stellt Kadri allerdings auch fest, dass es heutzutage nicht ausreicht, barbarische Strafen einfach weg zu interpretieren oder mit Rechtsfiktionen auszuhebeln: Die Muslime sollten sich dazu durchringen, sie grundsätzlich abzulehnen. Kadris Unterscheidung zwischen himmlischer und irdischer Gerechtigkeit bietet dafür eine gute Argumentationsgrundlage.
Wenn sich, wie Kadri eine Statistik aus Großbritannien zitiert, fast 50 Prozent der Muslime positiv zur Scharia äußern, heißt dies daher nicht, dass sie alle Fundamentalisten sind. Was sie unter Scharia verstehen, dürfte jeweils höchst unterschiedlich sein, so unterschiedlich wie die verwirrende Vielfalt islamischer Rechtsmeinungen, die durch Internetforen und Online-Fatwas offensichtlich geworden ist.
So kann sich ein indonesischer Einwanderer in Kanada bei einer in Indonesien von seinem Scheich ausgestellten Online-Fatwa Rat holen, sein nicht minder muslimischer syrischer Nachbar dagegen bei einem Scheich irgendwo in der arabischen Welt – dass die Antwort unterschiedlich ausfällt, wird nicht überraschen.
Scharia, so könnte man die Schlussfolgerung des Autors auch deuten, bedeutet für die meisten gläubigen Muslime oft nichts anderes als Gerechtigkeit – aber was im einzelnen darunter verstanden wird, ist naturgemäß sehr verschieden.
Die Darstellung profitiert von den persönlichen Begegnungen des Autors und seinem lebendigen Stil. Das Buch hat wohlgemerkt keinen akademischen Anspruch, ist aufgrund der Ausgewogenheit des Urteils und seiner guten Lesbarkeit jedoch das zur Zeit empfehlenswerteste Buch über die Scharia und zeigt so nebenbei der deutschen Islamwissenschaft, dass sie immer noch Berührungsängste mit einer Öffentlichkeit hat, in der ein großes Interesse an einer unvoreingenommenen und zugleich nicht wissenschaftlich-spießigen Darstellung des Islams besteht.
Stefan Weidner
© Qantara.de 2015
Sadakat Kadri : "Himmel auf Erden", Matthes und Seitz Verlag 2014, Übersetzt von Ilse Utz, 384 Seiten