Chancen und Herausforderungen für Europa
Das Saudi-Arabien des Jahres 2018 konfrontiert Beobachter mit nur schwer aufzulösenden Widersprüchen. Einerseits ist das Königreich nach wie vor ein stark autoritärer Staat, in dem massive Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind.
Auch die Regionalpolitik des Landes ist nicht von Kompromissen gekennzeichnet. So ist das Land federführend bei der Blockade des Jemen, wodurch es ganz wesentlich für die derzeit größte humanitäre Katastrophe der Welt mitverantwortlich ist. Gegen das Nachbaremirat Qatar hat Saudi-Arabien ein Embargo verhängt, dessen Umstände und Begründung höchst fragwürdig sind. Und während des Arabischen Frühlings stellte sich das Königreich vielfach gegen die in zahlreichen Staaten begonnenen Demokratisierungsprozesse.
Doch zur Wahrheit gehört andererseits auch, dass Saudi-Arabien unter Kronprinz Mohammed bin Salman (MbS) tiefgehende politische und wirtschaftliche Reformen eingeleitet hat, die auch die Liberalisierung einiger Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens umfassen: Frauen dürfen Autofahren und Konzerte besuchen, Kinos wurden erlaubt und die Befugnisse der Religionspolizei zurecht gestutzt. Ganz generell hat MbS der saudischen Jugend viele neue Freiräume gewährt, die vor Jahren noch unvorstellbar erschienen.
Von politischer Partizipation ausgeschlossen
Hintergrund ist dabei nicht weniger als ein Neuentwurf des bisher geltenden saudischen Gesellschaftsvertrags. In der Vergangenheit bauten die Herrscher ihre Macht zum einen auf die Unterstützung der anderen Machtzentren innerhalb der Königsfamilie. Zum anderen stützten sie sich auf den wahabitischen Klerus, der zwar eine teilweise an das europäische Mittelalter erinnernde Islaminterpretation vertrat, dafür aber kaum Kritik am Herrscherhaus übte und dessen Politik legitimierte. Einfache Saudis waren von politischer Teilhabe ausgeschlossen, profitierten im Gegenzug jedoch von zahlreichen finanziellen Wohltaten, die durch die sprudelnden Öleinnahmen finanziert wurden.
Die Situation heute ist völlig anders. Der 32-jährige Kronprinz hat die Macht innerhalb der Königsfamilie monopolisiert, indem er die anderen Machtzentren ausgeschaltet hat. Ähnlich ging er gegen potenzielle Oppositionelle aus dem islamistischen Lager vor, die er durch Verhaftung einiger ihrer bekanntesten Persönlichkeiten ruhig stellte. Durch dieses systematische "Kaltstellen" seiner Kritiker konnte er seine Herrschaft vorerst festigen. Doch er machte sich dabei auch viele neue Feinde.
Saudische Wirtschaftsentwicklung wird entscheidend sein
MbS stützt seine Herrschaft nun voll auf seine Popularität bei der jungen Bevölkerung. Etwa 60 Prozent aller Saudis sind unter 30 Jahre alt. Die von ihm eingeleiteten Liberalisierungsmaßnahmen sichern ihm deren Zustimmung. Außerdem muss er attraktive Arbeitsplätze schaffen, um das Selbstwertgefühl der jungen Saudis und ihren Stolz auf ihre Herrscher zu steigern.
Doch neben ihrer Zustimmung erwartet MbS auch mehr Eigenverantwortung, denn das weiche Kissen finanzieller Wohltaten dürfte in Zukunft dünner werden, wenn der Ölpreis nicht bald wieder dauerhaft deutlich steigen sollte. Und sich darauf zu verlassen, bleibt riskant.
MbS' Macht steht und fällt daher mit der Weiterentwicklung der Wirtschaft. Nur durch einen schnellen und erfolgreichen Ausbau des Nicht-Ölsektors kann er diese Ziele erreichen. Geht dies schief, wird seine Popularität bei der Jugend zurückgehen und seine vielen neuen Feinde werden beginnen, an seinem Stuhl zu sägen. Kostspielige regionalpolitische Abenteuer wie im Jemen oder verschenktes wirtschaftliches Potenzial wie mit dem Boykott gegen Qatar erhöhen dieses Risiko.
Ähnliches gilt für eine Eskalation des Konflikts mit Iran. Sie könnte MbS zwar kurzfristig nutzen – ein gemeinsamer Feind eint bekanntlich. Doch eine militärische Eskalation, in deren Folge das Königreich auf den militärischen Schutz der USA angewiesen wäre, könnte finanzielle Löcher von kaum noch zu überblickender Größe in die saudischen Kassen reißen und damit MbS extrem angreifbar machen.
Ansätze für Deutschland und die EU
Wie sollte sich Deutschland nun gegenüber einem solchen Akteur verhalten? Angesichts der kaum überzubewertenden Bedeutung der Entwicklung des Nicht-Ölsektors hat Deutschland Saudi-Arabien mehr anzubieten, als manchem vielleicht bewusst ist. Auch wenn die bilateralen Beziehungen derzeit geschwächt sind, braucht das Königreich deutsches Know How und vor allem deutsche Investitionen mehr denn je.
Die derzeitige Verstimmung dürfte daher eher ein temporäres Phänomen sein. Deutschland sollte dem Königreich jedoch immer wieder deutlich machen, dass der Krieg im Jemen, die Qatarkrise und eine weitere Eskalation mit dem Iran dem Investitionsstandort Saudi-Arabien und der Golfregion insgesamt schweren Schaden zufügen – welcher Unternehmer möchte schon in einem immer unruhiger werdenden Krisenherd investieren?
Doch nicht nur in diesem Zusammenhang sollten Deutschland und auch seine europäischen Partner noch mehr das Gespräch zu regionalpolitischen Themen suchen. Saudi-Arabiens offensive Außenpolitik kann gravierende Folgen für Europa haben. Krisen können zu Kriegen werden und Kriege zwingen Menschen zur Flucht.
Deutsche und europäische Politik sollte deshalb viel mehr Ressourcen darauf verwenden, die Intensität des nahezu alle Einzelkonflikte in der Region beeinflussenden Hegemonialkonflikts zwischen Saudi-Arabien und Iran zu reduzieren.
Intellektuelle aus der Golfregion nennen immer wieder die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ("KSZE") als Orientierung für eine solche Konfliktentschärfung. Das klingt ehrgeizig, zumal Dialog nach der Aufkündigung des Nuklearabkommens durch die Trump-Administration noch schwieriger geworden ist. Doch es ist ein diskussionswürdiger Gedanke und Dialog bleibt der nachhaltigste Lösungsansatz.
Unsicherheitsfaktor Trump
Daran ändert auch die Zustimmung Saudi-Arabiens und der Vereinigten Emiratischen Emirate (VAE), des engsten Verbündeten des Königreichs, zur Aufkündigung des Abkommens nichts. Denn zum einen kann beiden nicht an einer militärischen Eskalation gelegen sein. Zum anderen machen Saudi-Arabien und die VAE in der Qatarkrise gerade die schmerzliche Erfahrung, dass US-Präsident Trump kein verlässlicher Partner ist, auf den man langfristig bauen kann.
Nachdem Trump anfangs sich klar auf Seiten des qatarkritischen Lagers um Saudi-Arabien und den VAE positioniert hatte, fordert er inzwischen beide zunehmend deutlich dazu auf, eine Lösung für die Krise zu finden, um zusammen mit Qatar eine geeinte Front gegen Iran zu bilden. Diese Unzuverlässigkeit dürfte die Attraktivität der Europäer erhöhen.
Waffenlieferungen bleiben angesichts der saudischen Regionalpolitik freilich hochproblematisch. Trotz legitimer Sicherheitsinteressen gegenüber der destabilisierenden Regionalpolitik Irans, ist es nicht verantwortbar, dass Deutschland Patrouillenbooten an ein Land verkauft, das über seine Seeblockade entscheidend für eine humanitäre Katastrophe mitverantwortlich ist.
Dass sich Deutschland dadurch mit seinen Forderungen nach der Einhaltung von Menschenrechten auch gegenüber anderen autoritären Regimen unglaubwürdig macht, ist offensichtlich.
Matthias Sailer
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Matthias Sailer ist Promotionsstipendiat der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.