Der Fall Murat Kurnaz im Kino
Das Kino hat sich immer wieder aktueller politischer Ereignisse bedient. Der aus Griechenland stammende Regisseur Constantin Costa-Gavras wurde 1969 mit seinem Politthriller "Z" international bekannt.
Costa-Gavras klagte in seinem Film die griechische Militärdiktatur an. "Z" wurde zum Vorreiter eines ganz neuen Filmgenres: des spannend aufbereiteten, politisch-engagierten Kinos für ein größeres Kinopublikum.
Emotion versus Authentizität
Anders als das dokumentarische Kino setzt der populäre Spielfilm auf eine Emotionalisierung der Zuschauer. Über die Identifikation mit Schauspielern war es für die Zuschauer leichter einen Bezug zu den im Film geschilderten Ereignissen herzustellen.
Oft drängen sich beim politischen Kino allerdings auch Spannungsmomente derart in den Vordergrund, dass das eigentliche Anliegen in Vergessenheit gerät. Auch ein allzu großer Starkult stellt politische Aussagen nicht selten in den Schatten.
Es gibt natürlich keine Standardformel für das politische Filmgenre. Meist liegt es an der Qualität des Drehbuchs und dem Können und der Sensibilität der Regie, ob ein solcher Film funktioniert oder nicht.
Ein aktuelles Beispiel für gelungenes politisches Kino aus Deutschland ist der Film "5 Jahre Leben" (Bundesstart 23. Mai). Den Hintergrund bildet der brisante Fall des Deutsch-Türken Murat Kurnaz, der kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2011 in Pakistan verhaftet wurde, in das berüchtigte Gefangenenlager Guantanamo gebracht wurde, dort über 5 Jahre einsaß und erst nach unzähligen Protesten und juristischen wie politischen Auseinandersetzungen freikam.
Murat Kurnaz, das war schon kurz nach der Festnahme klar, war nie ein Terrorist. Er hatte mit den Anschlägen von New York nichts zu tun, auch stand er den Taliban nicht nahe.
Ein Demokratie-Skandal
"Der deutsche Taliban" titelte Deutschlands größte Boulevardzeitung "Bild" lange populistisch und wohl auch entgegen besseren Wissens. Als "Deutscher Taliban" ist Murat Kurnaz dann auch in den Jahren nach dem 11. September 2001 und den Kriegen in Irak und Afghanistan ins Bewusstsein der Deutschen eingegangen.
"Guantanamo wird immer noch als eine Irritation, nichts als Skandalon einer Demokratie betrachtet", erregte sich der Publizist Roger Willemsen, der in seinem Buch "Hier spricht Guantanamo" vor einigen Jahren Interviews mit Ex-Häftlingen veröffentlichte. Der Film "5 Jahre Leben" führt dieses Skandalon nun eindringlich in Spielfilmform vor Augen.
Wie kriegt man einen solchen Stoff ins Kino - noch dazu als Spielfilm? "Was würde ich tun, wenn man mich fast fünf Jahre gefangen hält? Wie würde ich es überleben, wenn man mir alle meine Rechte, die Luft zu atmen, meine Privatsphäre, wichtige Jahre meines Lebens einfach nimmt?"
Diese Fragen stellte sich der junge Regisseur Stefan Schaller, als er vor einigen Jahren begann, sich mit dem politisch brisanten Stoff zu beschäftigen. Schaller hatte im Oktober 2005 ein Studium an der Filmakademie in Ludwigsburg aufgenommen.
Sein Interesse an Murat Kurnaz liegt allerdings schon weiter zurück: "Schon vor meinem Studium an der Filmhochschule habe ich den Fall aufmerksam verfolgt und habe Murats Anwalt Bernhard Docke getroffen", erzählt Schaller. Es ist also nicht so, dass sich hier ein eifriger Filmhochschüler ein "spannendes" Thema für seinen Diplomfilm gesucht hätte. Das merkt man dem Film an.
Kammerspiel in Guantanamo
Schaller konzentriert sich in seinem Film, den er in Brandenburg und im Studio Babelsberg gedreht hat, fast ausschließlich auf zwei Personen: Murat Kurnaz und Gail Holford, einen US-Verhörspezialist, der den aus Bremen stammenden Gefangenen aushorcht und - vergeblich - zu einem "Geständnis" drängen will.
Diese fast kammerspielartige Vorgehensweise verleiht dem Film eine ungeheure Dichte. Dabei verzichtet Schaller nicht auf dramaturgisch zugespitzte Szenen. Er tut das aber nicht um des Spektakels willen.
Verhöre ohne Ende: Murat Kurnaz und sein amerikanischer Gegenspieler
Die politischen Ränkespiele im Hintergrund, die Weigerung des deutschen Staates, Murat Kurnaz nach dessen erwiesener Unschuld wieder in seine Heimat einreisen zu lassen, die menschenverachtende Häftlings-Politik der Ära Busch - all das wird bei Schaller mehr oder weniger ausgeblendet.
Was der Regisseur in all seiner Deutlichkeit jedoch zeigt, ist die tagtägliche Tortur der Guantanamo-Häftlinge. Und doch: Durch das eindringliche Spiel der Darsteller, die ja einen "wahren Fall" spielen, gewinnt der Film eine größere Dimension. Er habe "eine Metapher auf das politische Versagen im Fall Kurnaz zu erzählen" versucht, sagt Schaller.
Politische Willkür in der Demokratie
Im Vordergrund steht aber das menschliche Drama. Ein Individuum, das zerrieben wird von der Macht eines Staates und dessen Willkür. Der Film sei seine "persönliche Antwort auf die Frage, was Kurnaz die Zeit auf Guantanamo überstehen hat lassen, ohne sich aufzugeben: Die Erkenntnis, dass es letztlich nur darum geht ein Geständnis zu bekommen, um so seine Inhaftierung posthum zu legitimieren (…) Auf filmischer Ebene interessierten wir uns hauptsächlich für den psychologischen Aspekt einer solch langen nicht gerechtfertigten Gefangenschaft."
Schaller ist mit traumhafter Sicherheit auf dem schmalen Grat eines glaubwürdigen Polit-Films gewandelt - und nicht abgestürzt. "5 Jahre Leben" ist konzentriert erzähltes politisches Kino. Verständlich und spannend inszeniert, nie jedoch spekulativ und auf billige Schauwerte reduziert.
Der Film schafft es, eine einzelne, individuelle Geschichte zu erzählen, dabei im Hintergrund aber stets den Fokus auf das Thema Menschenrechtsverletzung aufscheinen zu lasen. Das beeindruckte auch die Jury des Max Ophüls Festivals im Saarbrücken im Januar. "5 Jahre Leben" bekam dort zwei Preise zugesprochen.
Nun muss sich der Film des jungen Nachwuchsregisseurs Stefan Schaller, der in der Tradition des politischen Kinos eines Konstantin Costa-Gavras steht, in den deutschen Kinos behaupten.
Jochen Kürten
Ein Interview mit Stefan Schaller und Murat Kurnaz können Sie in der Ausgabe von KULTUR 21 am 8. Juni sehen. Die neue Ausgabe der Sendung KINO (10.5.) enthält unter anderem Berichte über den Film "Freier Fall", den Nachwuchsschauspieler Markus Krojer und den Kinoplakatemaler René Birkner.
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de