Geächtet und vergessen
Am 16. Mai 2003 machten sich 14 Jugendliche aus dem Armenviertel Sidi Moumen im Großraum Casablanca auf, um an fünf Orten in der Stadt Selbstmordattentate zu verüben. Dabei kamen 43 Menschen ums Leben, Hunderte wurden verletzt. Die marokkanische Gesellschaft war damals zutiefst schockiert und verglich die Attentate mit den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA.
Bis 2003 glaubten viele, Marokko sei von der Bewegung des politischen Islam wenig betroffen und terroristische Organisationen könnten hier aufgrund des starken Staatsfundamentalismus mit dem König als "Führer der Gläubigen" an der Spitze nicht Fuß fassen.
Marokko galt bis 2003 auch als Ausnahme im vom Terrorismus geplagten Nordafrika, denn gerade die marokkanische Gesellschaft hatte die verheerenden Auseinandersetzungen zwischen Islamisten und Staatsmacht im Nachbarland Algerien miterlebt und viele Flüchtlinge aufgenommen.
Die Ereignisse des 16. Mai haben diesen Mythos zerstört. Terrorgruppen versuchten insbesondere unter den städtischen Armen Anhänger zu rekrutieren. Immer wieder kam es seitdem im Land zu Selbstmordattentaten (zuletzt 2011 in Marrakesch).
Sidi Moumen – das "Gaza" Marokkos
Die Jugendlichen aus Sidi Moumen verübten gleichzeitig fünf Attentate auf westliche Restaurants und Hotels sowie auf das jüdische Kulturzentrum und den jüdischen Friedhof in Casablanca.
Der marokkanische Autor und Maler Mahi Binebine ist den Biographien dieser Attentäter nachgegangen. Sein preisgekrönter Roman "Die Engel von Sidi Moumen" (soeben auf Deutsch erschienen bei Lenos) beschreibt die Entwicklungen bis hin zum Attentat aus der Sicht des Jungen Jaschin. Binebine recherchierte dazu die aussichtslosen Lebensbedingungen in Sidi Moumen und seinen Vierteln, genannt "Gaza" oder "Tschetschenien".
Jaschin erzählt aus dem Jenseits von seinem Alltag, seiner Familie, seiner ersten Liebe und seiner Fußballclique "Die Sterne". Nur einer aus der Gruppe kann zur Schule gehen. Die anderen suchen auf der Müllhalde nach etwas Verwertbarem.
Jaschin erzählt auch von den Drogen und der Gewalt unter den Jugendlichen. Sein Bruder bringt einen seiner Nachbarn um, als dieser ihn vergewaltigen will. Murad wird an einer abgelegenen Stelle der Müllhalde verscharrt.
Post-mortem erkennt Jaschin, dass sein sogenannter Märtyrertod sinnlos war. Und das ist auch die Botschaft des Autors Binebine: Die Jugendlichen geraten in die Fänge eines gut operierenden Terrornetzwerkes. Hier werden sie ideologisch umerzogen, erhalten aber über die materielle Sicherheit hinaus eben auch eine vorgebliche Wertschätzung, die sie bisher kaum fanden.
Wegmarken des internationalen Terrors
Nabil Ayouch hat aus dieser Geschichte den Spielfilm "Les Chevaux de Dieu" gemacht. Der Titel wurde erst kürzlich auf Wunsch des französischen Verleihs geändert. Zwar verweist der Film auf die Wegmarken des internationalen Terrors, aber im Vordergrund steht das Leben und Sterben der Kinder im Slum. Dabei hat Ayouch kein Melodrama gedreht, sondern ist der Frage nachgegangen, welche Gründe neben Armut und gesellschaftlichem Ausschluss dazu führen, sich dem Terrorismus zuzuwenden.
Ayouch, Jahrgang 1969, hat zuvor einige der wichtigsten marokkanischen Spielfilme gedreht. In seinem Erstlingswerk "Mektoub" ("Schicksal" von 1997) geht er der wahren Geschichte eines Polizisten nach, der Hunderte von Frauen vorlud, sie vergewaltigte und dies auf Video aufnahm.
Erst als die Filme auf dem Schwarzmarkt von Casablanca zirkulierten, ging man den Anschuldigungen zweier Opfer nach. In diesem Film hat Malika Oufkir einen kurzen Auftritt. Sie ist die Tochter des ehemaligen Generals Oufkir und war über 20 Jahre lang mit ihrer Familie in Sippenhaft, als Vergeltungsmaßnahme für die Beteiligung ihres Vaters an dem Attentat auf Hassan II. im Jahr 1972. In Ayouchs Film tritt sie in den marokkanischen Nationalfarben (rot/grün) gekleidet als Kämpferin mit einer Kalaschnikow in der Hand auf.
Die Welt der Kinder im Fokus
2000 drehte Ayouch "Ali Zaoua. Prinz der Straße" – einen Film über Straßenkinder. Auch in "Les Chevaux de Dieu" fühlt sich der Regisseur in die Welt der Kinder ein. Und auch hier dreht er hauptsächlich mit Laien aus Sidi Moumen selbst. In Cannes wurde der Film in der Sektion "Un Certain Regard" mit Standing Ovations bedacht. Im letzten Jahr hatte Andreas Dresen mit seinem Film "Halt auf freier Strecke" den mit 30.000 Euro dotierten Preis dieser Sektion gewonnen.
Seit "Mektoub" hat Ayouch eine beispiellose Karriere gemacht. Zweimal hat er Marokko im Wettbewerb um den Oscar vertreten. Nicht alle Filme von Ayouch werden auch in Marokko selbst gezeigt: Der zum Teil surrealistische Krimi "Une Minute de Soleil en Moins" (Marokko/Frankreich 2002) hat noch immer keine Erlaubnis zur Aufführung erhalten. Die Hauptfigur ist ein junger Polizist, der sich während seiner Ermittlungen zwischen seiner transsexuellen Freundin Yasmine und der attraktiven Hauptverdächtigen des Mordfalls hin- und hergerissen fühlt.
Die marokkanische Filmlandschaft hat inzwischen wichtige Erfolge vorzuweisen: Marokko ist heute der zweitgrößte Filmproduzent in der arabischen Welt nach Ägypten. Und marokkanische Produktionen sind den ägyptischen an Qualität weitaus überlegen. Seit fast 20 Jahren greifen diese Filme gesellschaftspolitische Tabuthemen ohne Umschweife auf.
Die konsequente Filmförderung des 1994 gegründeten "Centre Cinématographique Marocain" (CCM) hat dabei eine wichtige Rolle gespielt. Hinzu kamen die Auflage eines Filmfonds, die Gründung einer Filmschule und eines Filmfestivals in Marrakesch 2001 sowie der Cinémathèque in Tanger 2006.
Mit Radu Mihaileanu, Leila Kilani, Faouzi Bensaid, Narjiss Nejjar, Laila Marrakchi, Nour-Eddine Lakhmari, Swel und Imad Noury, Nabil Ayouch und vielen anderen feiert das junge marokkanische Kino im In- und Ausland Erfolge.
Sonja Hegasy
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de