Die Krux mit dem Tabu
Anfang September veranstalteten das Zentrum Moderner Orient und das Arsenal – Institut für Film und Videokunst in Berlin marokkanische Filmtage unter dem Titel "Umbruch und Vielfalt". Es waren neun Filme aus den Jahren 2001–2010 zu sehen. In diesem Zeitraum wurden im Marokko insgesamt 120 Filmproduktionen realisiert.
Das Selektionskriterium für das Berliner Programm war, so die Koorganisatorin Sonja Hegasy, Arbeiten zu präsentieren, die das Schweigen über kontroverse Themen in der marokkanischen Gesellschaft brechen und zu zeigen, dass sich im Land seit mehreren Jahren eine langsamer Wandel vollzieht.
Vielfalt marokkanischer Lebenswelten
Eröffnet wurden die Filmtage mit Narjiss Nejjars mehrfach prämierten Les Yeux Secs (al-Ouyoun al-Jafa, F/MA 2003), ein Film, der sich mit dem Thema Prostitution in Marokko auseinandersetzt. In seinem ersten Kinospielfilm Le Temps des Camarades (Zaman al-Rufaq, MA 2008) befasst sich Regisseur Mohamed Cherif Tribak mit den Auseinandersetzungen zwischen marxistischen und islamistischen Studierendengruppen in den frühen 1990er Jahren.
Leila Kilani portraitiert in ihrer Dokumentation Nos Lieux Interdits (Amakinouna al-Mamnouaa, F/MA 2008) die Arbeit der Wahrheitskommission zu den Menschenrechtsverletzungen unter König Hassan II, und Yasmine Kassari beleuchtet in L'Enfant Endormi (Arraguad, MA/B 2004) nach dem Alltag der Frauen, die zurück bleiben, wenn ihre Männer Arbeit in Europa suchen. Mirages (Ayam al-Wahm, MA 2010) von Talal Selhami vereint Elemente des Horror-, Thriller und des Fantasy-Films, um die Abgründe der heutigen Arbeitswelt in Marokko aufzuzeigen. Nicht nur an Themen, auch an kineastischen Handschriften war das Programm reich.
Vielsagende Distanz
Fast alle Arbeiten wirkten jedoch distanziert zu ihren Figuren und fremd gegenüber dem Land oder dem Thema des Films. Woran liegt das? Teilweise lässt sich dieses Phänomen damit erklären, dass eine große Zahl der Regisseurinnen und Regisseure nicht in Marokko lebt und einigen Fällen bereits im Ausland geboren wurde.
Diese Filmemacher werden gezielt aufgefordert, ihre Filme in Marokko zu drehen, denn der Staat investiert seit einigen Jahren in die Kinoproduktion. Seit langem schon ist Marokko ein beliebter Drehort für Hollywood-Historienfilme, eine ganze Industrie wurde in der Oasenstadt Ouarzazate aufgebaut, die Investitionen ins Land bringt. Davon soll nun auch die einheimische Filmproduktion profitieren. Noch kommen nicht genügend Einreichungen, um die Gelder ausschließlich im Land zu vergeben, weshalb sich auch Filmschaffende marokkanischen Ursprungs um die Subventionen bewerben können.
Gleichzeitig kann aber von den arabischen Geldern allein kaum ein Film realisiert werden, Koproduktionen mit Europa sind notwendig, um die Finanzierung stemmen.
Definitionsmacht von Geschichte und Politik
Die Dissonanzen in Filmen können auch politisch oder sozial begründet sein. Der Zugang zu den Mitteln der Kinoproduktion, einer extrem kostspieligen Angelegenheit, beschränkt sich in Post-Drittwelt-Ländern in aller Regel auf die sehr kleine Ober- und Mittelschicht, die gut mit Europa zusammen arbeiten können muss. Gleichzeitig drehen sich Themen, die Finanzierung finden, häufig um Rückständigkeit und Armut im weitesten Sinne.
Es handelt sich also selten um Innenansichten, sondern vielmehr sind in den Subtext der Filme soziale, ökonomische, politische und ethnische Konflikte eingeschrieben, in denen es um die Definitionsmacht von Geschichte und politischen Werten geht.
Die Krux mit den Tabus ist, dass sie oft betroffen machen und gleichzeitig simplifizieren, manchmal verfälschen und nur selten analysieren.
Les Yeux Secs, zum Beispiel, spielt in einem abgelegen Amazigh (Berber)-Dorf im Atlasgebirge. In dem Dorf leben seit Generationen nur Frauen, Männer werden bei Vollmond und ausschließlich gegen Zahlung empfangen.
Die drei Hauptfiguren, Hala, Mina und Fahd, werden von professionellen Schauspielerinnen und Schauspielern dargestellt, die in Marokko durchaus zu den Celebrities gehören. TV-Star und Sängerin Siham Assif gibt die Hala und Khalil Benchegra, Fahd, spielt mitunter Haupt- oder größere Nebenrollen in Hollywoodfilmen, die in Ouarzazate gedreht werden. Raouia, die Mina, war auf deutschen Leinwänden zuletzt in Xavier Beauvois' Von Menschen und Göttern zu sehen.
Alle anderen Darstellerinnen wurden in drei Dörfern der Region gecastet. Sie sprechen im Film ausschließlich Amazigh, während die Profis sich auf Arabisch verständigen. Beim Casting für die sehr gut bezahlten Jobs als Statistinnen wurde den Frauen gesagt, dass der Film sich mit dem Thema Prostitution auseinander setzt, Einzelheiten wurden nicht erläutert.
Nachdem einige Statistinnen Les Yeux Secs im Kino in der Stadt gesehen hatten und feststellen mussten, dass der Film das Problem der Prostitution auf das Atlasgebirge reduziert und damit einzig den Berberinnen zuschreibt haben sie versucht, ein Aufführungsverbot zu erwirken – 35 Frauen unterstützt von acht Männern. Der Menschenhandel zum Zwecke sexueller Ausbeutung von Frauen ist ein riesiges Problem in Marokko, wobei Marokkanerinnen vor allem ins arabische Ausland und nach Europa gehandelt werden. Der UNHCR moniert seit Jahren, dass die Regierung untätig bleibt.
Eine reelle Chance auf Erfolg hatten die Berberinnen mit ihrem Anliegen indessen nicht, denn die Regisseurin hatte mit den analphabetischen Statistinnen im Vorfeld schriftliche Verträge abgeschlossen und sich so juristisch abgesichert.
Die Region um Tizi Nisly, in der der Film spielt, ist in Marokko dadurch bekannt, dass die Berberstämme hier die blutigsten Aufstände gegen die französische Kolonialmacht geführt hatten. Diese hat das Gebiet daraufhin mit einem 24-Jährigen Embargo gestraft, das die marokkanischen Könige, die Araber sind, nach der Unabhängigkeit aufrecht erhielten. Bis heute kämpft die berberische Bevölkerung um den Anschluss an grundlegende Infrastrukturmaßnahmen wie Straßenbau, fließendes Wasser oder Elektrizität.
Bewusste Ausblendung von Fakten
Leila Kilani portraitiert in ihrem Dokumentarfilm Nos Lieux Interdits vier Familien von ehemaligen politischen Gefangenen und Folteropfern aus der Regierungszeit Hassan II. Der jetzige König, Sohn Hassans II, will das politische Unrecht unter seinem Vater aufarbeiten und hat eine Wahrheitskommission eingesetzt, die vor allem deshalb umstritten ist, weil Täter in den Zeugenaussagen nicht genannt werden dürfen.
Die von der marokkanischen Wahrheitskommission und verschiedenen französischen Filmförderern finanzierte Dokumentation eröffnet mit einer Informationstafel, auf der unter anderem steht: "1956: Das Königreich Marokko erlangt Unabhängigkeit. Seit Anfang der 1960er Jahre und mehr noch in den 70ern und 80ern haben die marokkanischen Autoritäten Folter und Entführungen angewendet, um die Oppositionsbewegungen zum Schweigen zu bringen."
Dass es vorher, unter französischer Kolonialherrschaft, und nachher, unter dem jetzigen König, politische Gefangenschaft sowie Gewalt und Folter in den Gefängnissen gegeben hat und gibt, findet keine Erwähnung. Das ist eine klare politische Positionierung, die eine Menge Fragen an den Film aufwirft.
Filmprogramme über fremde Kulturen zeigen notwendiger Weise einen kleinen, oft verzerrenden Ausschnitt, der kritisch begleitet werden muss, um an den einzelnen Filmbeispielen einen tiefen Einblick in die Komplexität des betreffenden Landes geben zu können.
Irit Neidhardt
© Qantara.de 2011
Redaktion: Lewis Gropp/Qantara.de
Irit Neidhardt ist Islamwissenschaftlerin, Filmproduzentin sowie Expertin für Film und Kino im Nahen Osten.