Hohle Allianz
Dass man sich im Westen Gedanken darüber macht, was die beste Regierungsform für die Länder des Orients sein könnte, ist seit Napoleons Vorstoß nach Ägypten gute orientalistische Tradition. Allerdings haben sich die westlichen Vorstellungen von der idealen Herrschaft im Orient nie so häufig und so radikal verändert wie in den vergangenen fünfzehn Jahren.
Die Furcht vor den "orientalischen Massen" und einem "genuin morgenländischen Staatsmodell" wie dem des Ayatollah Khomeini hatte die Regierenden in den USA und Europa eine zeitlang auf nach innen stramme und nach außen zuverlässige Diktatoren setzen lassen. Husni Mubarak war das Musterbeispiel. Aber auch Ghadhafi und Assad bewiesen Potiental, in diese Rolle hineinzuwachsen.
Dann kam der 11. September 2001. In Umkehrung eines bekannten strategischen Prinzips schrieb die Bush-Administration nun "Revolution by War" vor. Der Einmarsch in den Irak, der Sturz der "Republic of Fear" Saddam Huseins und die militärisch erzwungene Errichtung eines neuen, auf demokratischer Verfassung und freien Wahlen beruhenden Staates sollte in den gesamten "Greater Middle East" ausstrahlen. Die Kampfstiefel der GIs sollten eine Welle der Demokratisierung lostreten. Als sich im kleinen Libanon meist junge Männer und Frauen über dem von einer Bombe zerfetzten Leichnam des Polit-Milliardärs Rafiq al-Hariri zur "Zedern-Revolution" trafen, glaubten in Washington einige, der Plan gehe auf.
Plötzlich: "Arabischer Frühling"
Es kam anders. Der Irak versank im sektiererischen Bürgerkrieg. Die US-Besatzungsarmee verspielte mit der Folter Gefangener und Massakern an der Zivilbevölkerung jeglichen Kredit als "demokratisches Vorbild". Günstige Begleitumstände für die Renaissance des guten alten Diktators. Er war eben doch die realistischere Variante.
Dann verbrannte sich ein von den Behörden schikanierter Obstverkäufer in einer tunesischen Provinzstadt und löste den "Arabischen Frühling" aus. Plötzlich forderten die gefürchteten "arabischen Massen" Freiheit und Menschenrechte. Da konnte man im Westen schlecht "nein" sagen. Sollte der Orientale doch zur Demokratie fähig sein? "Es triumphiere der Volkswille! Auch wenn er zur Wahl der Muslimbrüder in die obersten Staatsämter führt", raunte man sich jetzt zwischen Washington und Berlin zu.
Das Karussell dreht sich immer schneller. Viele Länder des "Arabischen Frühlings" versinken in Chaos und Krieg, vor allem Syrien. Kaum hat Obama gesagt: "Das ist nicht unser Business", steigt aus den herrschaftslos gewordenen Trümmerzonen des Fruchtbaren Halbmondes "Der Islamische Staat" mit seinem schwarzbärtigen Kalifen Abu Bakr al-Baghdadi auf.
Der "richtige" Islam soll es biegen
Obama muss jetzt doch Krieg führen im Orient. Im Weißen Haus und auf dem NATO-Gipfel in Wales erklärt er, dass er es "mit unseren Partnern in der Region" tun will. Wer ist das? Die Kurden, gewiss. Minderheiten im Orient waren schon immer Verbündete des Westens. Das ist eine Konstante seit Napoleons Zeiten. Aber das reicht nicht. Jetzt, wo die Inseln der Stabilität zusammenschrumpfen, der "Islamische Staat" die politisch-theologische Deutungshoheit beansprucht und fanatisierte Hitzköpfe aus aller Herren Länder anzieht, zimmert sich der Westen, unter Führung der USA, ein neues Leitmodell der idealen Herrschaftsform im Orient zusammen. Es ist die Machtausübung durch "gemäßigte" sunnitische, überwiegend dynastisch legitimierte, Regenten.
Das Modell an sich ist freilich nicht neu. Die Dynastien gab es schon zur Zeit des europäischen Kolonialismus. Neu ist allerdings die Leit- und Musterfunktion des Modells. Herrschaftssysteme wie die der Al Sa'ud, des "haschemitischen Hauses" in Jordanien, der Al Maktum in Dubai und der Al Khalifa in Qatar sind der Rettungsanker, an den sich der Westen nun klammert, um nicht allen Einfluss im Orient zu verlieren.
Öffentlich zu besichtigen waren diese Verhältnisse neulich, als Obama, Hollande und co. aus Trauer um den Tod von König Abdallah nach Riad pilgerten, David Cameron in Großbritannien gar die Fahnen auf Halbmast holte und alle dem 79-jährigen Thronfolger eine glückliche Hand wünschten. Die USA heben zudem seit September gern hervor, dass auch die saudische und jordanische Luftwaffe am Krieg gegen den IS beteiligt sind (inzwischen wird dies noch wirksamer von den Bildern des gefangenen jordanischen Kampfpiloten in IS-Hand in Erinnerung gerufen). Die "Freie Syrische Armee" und die noch zu bildenden sunnitischen "National Guards" in den Nord- und Westprovinzen des Irak sollen das Bündnis verstärken.
Offenbar hat der Westen das Bedürfnis, über die rein praktischen Aspekte der Zusammenarbeit mit den "moderaten sunnitischen Aliierten" hinauszugehen und das Bündnis ideell aufzuladen. Hier kommt der Islam ins Spiel, besser gesagt die "richtige" Interpretation desselben. Angesichts des vom Westen so wahrgenommenen ideologischen Vormarsches des IS sollen die "gemäßigten" sunnitischen Herrscher helfen, den "wahren Islam des Friedens und der Barmherzigkeit" in die Herzen der Menschen einzupflanzen.
Sisi: Vom Diktator zum gemäßigten Sunniten
Strahlend angenommen hat diese Aufgabe als erste Königin Rania von Jordanien. Auf dem Media Summit in Abu Dhabi forderte sie vergangenen November im Namen der "moderaten Mehrheit" der Muslime – natürlich in englischer Sprache - , die sozialen Medien für die Verbreitung eines Gegenentwurfs zu dem der "Terroristen" zu nutzen.
Die blondierte Königin verknüpfte ihre bekannte Rolle als Werbe-Ikone von Youtube, Instagram und Facebook mit der neuen Funktion als "Public Philosopher" des gemäßigten Islam. So schnell kann man den Slogan "Broadcast Yourself" mit "Broadcast Islamic Moderation" ersetzen. Es fehlen die Adjektive, um diesen monarchischen Auftritt zu beschreiben. Es darf allerdings vermutet werden, dass man sich zwischen Kalifornien und D.C. beglückwünschte und sich, vielleicht bei einem Toast, versicherte: "Die Strategie funktioniert."
Seitdem haben weitere "moderate sunnitische" Regenten diesen Chor verstärkt. Feldmarschall Abd al-Fattah as-Sisi, der nach seinem Militärputsch aus Ägypten auch wieder eine "Insel der Stabilität" machen will, forderte vor den Würdenträgern der al-Azhar-Universität eine "religiöse Revolution", damit sich die Muslime den "falschen Ideen" der Extremisten entgegenstellen. As-Sisi erläuterte, dass sich diese Revolution auf die "Lehren aus Koran und Sunna" stützen müsse.
Wie sich die Prinzipien der Mäßigung und der Vernunft mit dem Auspeitschen missliebiger Blogger und dem Wegsperren politischer Gegner vertragen, ist dabei nicht die entscheidende Frage. Viel mehr interessiert, welche Früchte die neue politische Schicksalsgemeinschaft hervorbringen wird, sowohl für den Westen als auch für die moderaten sunnitischen Regenten.
Auch wenn der ein oder andere gemäßigte Herrscher bis zu vierzig männliche Nachkommen und damit eine gewisse "dynastische Stabilität" vorweisen kann, fällt es schwer, der Schicksalsgemeinschaft eine positive Prognose zu geben. Mit wieviel Glaubwürdigkeit kann sie – nach allem, was war – eine ethisch aufgeladene politische Botschaft vertreten?
Allianz zwischen Schiiten und sunnitischen Extremisten
Mit dem Irak-Abenteuer von 2003 hat der Westen seine Glaubwürdigkeit im Orient für Generationen ruiniert. Wer sich auf dieses Bündnis einlässt, wird seine eh schon schwache Legitimität noch weiter aushöhlen. Die neue Schicksalsgemeinschaft erscheint wie ein Rezept zum beschleunigten Niedergang der sunnitischen Dynastien.
Alles deutet darauf hin, dass der IS und al-Qa'ida versuchen werden, in diese Bresche zu schlagen und ihren Terror verstärkt auf die Arabische Halbinsel zu tragen. Und naiv wäre es zu glauben, dass der viel mächtigere Gegner, der Iran und seine schiitischen Verbündeten, die offenkundigen Schwächen des Bündnisses zwischen sunnitischen Regenten und dem Westen nicht ausnutzen werden. Es liegt auf der Hand, dass der Iran auf den Schlachtfeldern des Fruchtbaren Halbmonds und des Jemen sogar taktisch mit den sunnitischen Extremisten zusammenarbeiten wird, um den USA und ihren Verbündeten zu schaden.
Es könnte also gut sein, dass der Westen sich bald schon ein neues bestmögliches Staatsmodell für den Orient wird ausdenken müssen. Es könnte aber auch sein, dass er dazu nach dem absehbaren Scheitern der aktuellen Schicksalsgemeinschaft nicht mehr die Kraft haben wird. Das Ideen-Karussel der Außenministerien und Think-Tanks wird vielleicht endlich stillstehen. Und alle "Player" im Orient werden die Nähe zum Westen scheuen wie der Teufel das Weihwasser.
Stefan Buchen
© Qantara.de 2015
Stefan Buchen arbeitet als Fernsehjournalist für das ARD-Magazin Panorama.