Die hässliche neue Ordnung des "Fruchtbaren Halbmondes"
Es scheint fast verständlich. Die USA haben dem Irak 2003 eine neue Friedensordnung aufgezwungen. 4.500 Soldaten sind dabei bis zum Abzug 2011 gefallen. Aus dem Zweistromland fließt wieder reichlich Öl. Da möchte man drei Jahre später nicht hinnehmen, dass das mühsame Werk wieder auseinanderbricht.
US-Präsident Barack Obama möchte nicht gerne die scharfkantigen Scherben zusammenkehren, die sein Amtsvorgänger Bush mit seiner Politik im Irak liegen gelassen hat. Der Irak brauche eine Regierung, "an der alle Volksgruppen beteiligt sind", ließ Obama nun wissen. Es war eine Kritik am irakischen Premier Nuri al-Maliki, der die Schiiten auf Kosten der Sunniten privilegiert hat. Ein neuer Premier möge kommen und eine Politik des konfessionellen Ausgleichs einleiten, zum Wohle des ganzen Landes. Und weil der Irak nach den jüngsten Parlamentswahlen sowieso eine neue Regierung bilden muss, könnte der Kurswechsel auch absolut demokratisch ablaufen.
Die Forderung Obamas klingt vernünftig und diplomatisch. Allerdings ist sie sowohl unrealistisch als auch scheinheilig.
Die Region, die man früher einmal als den "Fruchtbaren Halbmond" bezeichnete, wird von einem verheerenden innerislamischen Religionskrieg erfasst. Auf den Staatsgebieten, die nominell noch als "syrisch" und "irakisch" gelten, stehen sich schiitische und sunnitische Kräfte in unerbittlicher Feindschaft gegenüber. Diesem Krieg wohnt eine Dynamik inne, die weder präsidentielles Wunschdenken noch ein eiliger Besuch von Obamas Außenminister John Kerry in Bagdad stoppen können.
In die Arme der "Mahdi-Armee"
Das in normalen Zeiten durchaus zerstrittene schiitische Establishment im Irak rückt zusammen, schlüpft unter die Fittiche von Großayatollah Ali Sistani und in die Arme der "Mahdi-Armee" von Muqtada al-Sadr. Hinter der Einheit der schiitischen Reihen steht das iranische Regime von Ayatollah Khamenei. Sollte al-Maliki als Premier abgelöst werden, dann wird ihn jemand ersetzen, der seine sektiererische, nur den Schiiten verpflichtete Politik fortführen wird.
Die irakische Armee ist zerfallen. Die sunnitischen Offiziere und Soldaten sind zur sunnitischen Extremistengruppe "Islamischer Staat im Irak und Syrien" (ISIS) übergelaufen. Das gilt auch für die sunnitischen Stammesmilizen, die einst – genau wie die reguläre Armee – von der US-Besatzungsmacht als Bollwerk gegen "Al-Qaida im Zweistromland" bewaffnet und ausgebildet worden war. Nur so ist der Vormarsch der ISIS zu erklären, den man wohl treffender als ein allgemeines Zusammenrücken der Sunniten beschreiben könnte.
Wer soll in dieser Situation nun eine Regierung des nationalen Ausgleichs bilden? Bedrückender noch als der fehlende Realismus ist die Scheinheiligkeit von Obamas Forderung. Fügte er doch hinzu: "Die USA werden militärisch nicht zu Gunsten einer bestimmten Volksgruppe eingreifen."
Nur ein amerikanischer Präsident, der auf die Vergesslichkeit der Völker in Orient und Okzident zählt, kann solch einen Satz aussprechen. Schließlich haben die Vereinigten Staaten genau dies im Nordosten des Irak seit den 1970er Jahren verdeckt und ab 1991 offen getan. Geheime Operationen der CIA im Kurdengebiet, Einrichtung einer Flugverbotszone nördlich des 36. Breitengrades im Anschluss an die Operation "Desert Storm", Hilfe bei der Errichtung der Autonomen Region Kurdistan nach der Invasion 2003: schrittweise hat Washington die Absonderung eines Teilgebietes aus dem irakischen Staatsverband gefördert und zementiert.
Einflussgewinn der Kurden
Die "Autonome Region Kurdistan" ist heute praktisch ein unabhängiger Staat, der sich dank der Krise weiter ausdehnt. Die kurdischen Truppen ("Peshmergas") haben inzwischen sowohl das ölreiche Kirkuk als auch Teile der Provinz Ninive besetzt, zu der die Großstadt Mossul gehört.
Trotz Wirklichkeitsferne und Scheinheiligkeit – auf den verbalen Beistand eines europäischen Politikers kann sich Obama offenbar blind verlassen: den deuschen Außenminister. "Worauf es jetzt ankommt, ist die Bildung einer Regierung im Irak, die alle Regionen und alle Religionen einschließt", erklärte Frank-Walter Steinmeier am vergangenen Montag (23.6.2014) beim EU-Ministerrat in Luxemburg.
Getrieben wird die westliche Politik von der Sorge vor einer neuen Terrorzone im Mittleren Osten, die auch Europa und die USA bedroht. Aber könnte es sein, dass das Schreckgespenst der neuen Terrorgruppe ISIS die politischen Sinne allzu sehr trübt?
Zunächst bedroht und tötet ISIS Menschen im "Fruchtbaren Halbmond", die die Organisation als Feinde betrachtet: Soldaten und Sympathisanten der Regierungen in Damaskus und Bagdad, Minderheiten wie Yeziden und Christen, ausländische humanitäre Helfer und Journalisten. Das ist schlimm genug. Aber es ist auch nur die Kehrseite des grausamen Krieges, den Syriens Präsident Assad und nun auch al-Maliki gegen die Sunniten führen.
Revision des Kalifats-Begriffes
Der Westen könnte den Fehler begehen, der Furcht vor dem "Islamischen Staat im Irak und Syrien" alles andere unterzuordnen. Eine Korrektur könnte mit einer kritischen Revision des Begriffes "Kalifat" beginnen. Wenn es möglich ist, die Geschichte zu beleidigen, dann hat es ISIS mit der Anmaßung vollbracht, ein "Kalifat" errichten zu wollen.
Der Hinweis des SPIEGEL auf die "betrunkenen Kalifen von Bagdad" des Mittelalters, die den modernen sunnitischen Eiferern wohl kaum als Vorbild dienen können, ist so richtig wie amüsant. Gleichzeitig lenkt er vom Eigentlichen ab: Das islamische Kalifat des Mittelalters hat die Kultur der griechischen Antike und des Alten Persiens "geerbt" und erfolgreich mit der neuen Religion des Islam integriert. Es hat die arabische Kultur des Nomadentums in eine arabische Kultur der Sesshaftigkeit überführt, eine der großen geistigen Transferleistungen der Menschheitsgeschichte.
Die Kalifen haben griechische und persische Säulen für ihre Paläste, Madrasen und Moscheen benutzt. Und was tut ISIS? Die Eiferer des "Islamischen Staates" rauben die Altertümer von Ninive und verkaufen sie auf dem Schwarzmarkt, um ihren Krieg zu finanzieren! Wenn die taz angesichts des Eroberungszuges von ISIS vom "Checkpoint zum Kalifat" spricht, darf man hoffen, dass sie es ironisch gemeint hat.
Tendenz zur Überbewertung
Die Politiker in Deutschland, ganz frei von der Fähigkeit zur Ironie, neigen zur Überbewertung. Der Verfassungsschutz warnt regelmäßig in seinen Berichten, dass die geistigen Verwandten von "ISIS in Deutschland", "die Salafisten", "die freiheitlich-demokratische Grundordnung beseitigen und einen an der Scharia orientierten Gottesstaat errichten wollen". Wird das ein Haufen von 5.000 Aktivisten, sei es in Deutschland, sei es im "Fruchtbaren Halbmond", wirklich schaffen? Die absurde Anmaßung bestimmt jedenfalls das politische Denken und Handeln "unserer" Entscheidungsträger.
Es kann gut sein, dass die US-Streitkräfte mit Luftschlägen gegen ISIS vorgehen werden, zumal wenn sie feststellen, dass sich der fromme Wunsch nach einer "multikonfessionellen Regierung" in Bagdad nicht erfüllt. Die Sunniten im "Fruchtbaren Halbmond" werden sich zu ISIS dann so ähnlich verhalten wie die Pashtunen in Afghanistan zu den Taliban. Sie werden mit der Gruppe sympathisieren, die kompromisslos und radikal für "ihre Seite" kämpft und Opfer bringt.
Der Mittlere Osten steht an einem historischen Wendepunkt. Wenn Sunniten und Schiiten ihren Religionskrieg in Syrien, im Irak und darüber hinaus ausgefochten und sich erschöpft haben, werden sich die Kriegsparteien und ihre Paten in Teheran und Riad in die Augen sehen und entscheiden müssen, ob sie zur alten Staatenordnung vom Ende des Ersten Weltkrieges zurückkehren oder ob sie die Grenzen neu ziehen wollen, entlang der Waffenstillstandslinien zwischen den Konfessionen.
Wer immer eine realistische Position in diesem Konflikt sucht, für den darf die letztgenannte Option kein Tabu sein. Und wer immer das Vorbild einer toleranteren Zivilisation früherer Zeiten nicht vergessen kann, wird sich damit trösten müssen, dass die neue hässliche Ordnung vielleicht nur vorübergehend sein wird.
Stefan Buchen
© Qantara.de 2014
Stefan Buchen ist Fernsehautor für das ARD-Magazin Panorama.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de