"Rache ist nicht der richtige Weg"
"Es braucht Mut, über die Ereignisse zu sprechen, denn es tut sehr weh." Scheich Ahmed al-Muhairi sitzt in seinem neu eingerichteten Empfangsraum in der irakischen Stadt Hawija. Seit geraumer Zeit beschäftigt den 27-Jährigen vor allem eine Frage: Wie umgehen mit den Angehörigen von Kämpfern des "Islamischen Staats" (IS), also den Frauen und Kindern jener, die in weiten Teilen des Irak durch Mord, Zerstörung und Gewalt gegenüber Minderheiten über Jahre für Angst und Schrecken sorgten?
Al-Muhairi weiß, wovon er spricht: IS-Kämpfer töteten seinen Vater und vier seiner Onkel. Dadurch sah er sich gezwungen, die Führung seines Stammes anzutreten. Selbst der Raum, in dem er nun sitzt, war von den Dschihadisten geplündert worden. Erst seit kurzem kann Al-Muhairi ihn wieder zu Treffen mit Mitgliedern seines Stammes nutzen.
Als der IS 2017 besiegt wurde und Al-Muhairi seine Flucht beenden und nach Hause zurückkehren konnte, entschloss er sich im Umgang mit den Angehörigen der IS-Kämpfer zu einem eigenen Weg. Rache, fand er, sei nicht das geeignete Prinzip bei der Auseinandersetzung mit den IS-Angehörigen. Während sich anderswo im Irak Nachbarschaften weigerten, die Familien von IS-Mitgliedern zurückkehren zu lassen und sogar deren Häuser zerstörten, um eine Wiederansiedelung zu verhindern, sieht sich Scheich Ahmed in Verantwortung für diese Frauen und Kinder.
"Ich habe den früher mit dem IS verbundenen Personen vergeben", sagt er. "Von diesen Frauen und Kindern geht keine Gefahr aus. Außerdem sind sie Teil unseres Stammes. Wir können nicht zulassen, dass diese Beziehungen gekappt werden. Für die Täter ist natürlich die Polizei zuständig". Auch mehrere ausländische Staaten stellen sich ihrer Verantwortung: Sie, unter ihnen auch Deutschland, holten ihre jeweiligen Staatsangehörigen unter den IS-Anhängern zurück.
Gefahr der Radikalisierung
Werde diesen Familien und insbesondere den Kindern keine Zukunft geboten, drohe die Gefahr der Radikalisierung, begründet Al-Muhairi seine Entscheidung. Er freut sich zudem, dass andere Stammesführer seine Politik übernommen haben und Hilfe in dem schwierigen Prozess der Wiedereingliederung der sog. IS-Familien leisten. Allerdings, räumt er ein, hielten die meisten Menschen im Irak diesen Weg für zu schmerzhaft.
Der erste Schritt zur Normalisierung ist die Rückkehr der sog. IS-Familien in ihre Städte und Dörfer. Dort sollen sie sich wieder neben jenen Nachbarn niederlassen, die einst zu Opfern der Dschihadisten wurden. Es handelt sich um ein Problem von gewaltigen Dimensionen: Über 17.000 Menschen, die in irgendeiner Form in die IS-Herrschaft involviert waren, befinden sich noch im Irak, weitere 30.000 werden in absehbarer Zeit aus Lagern in Syrien zurückkehren, in denen Kämpfer und Angehörige der immer noch nicht restlos zerschlagenen Terrororganisation derzeit noch leben.
Intissar Ali Hamad (45) hat vor kurzem ein irakisches Lager für Binnenvertriebene verlassen, um sich mit ihren fünf Kindern in einem armen Viertel von Mossul niederzulassen. Ihr Ehemann und ihr ältester Sohn hatten sich zusammen mit dem Schwiegervater dem IS angeschlossen. Zurückkehren durfte sie nur, weil ihre Nachbarn dem zustimmten. Das Haus der Familie war durch einen Brand teilweise zerstört. Hamad und ihre Familie nächtigen nun in einem Zelt, das sie aus dem Lager mitgenommen haben. Eine Nichtregierungsorganisation half ihr, eine Mauer um das Grundstück zu bauen, um sie vor anderen, etwa vor rachsüchtigen Nachbarn zu schützen. Dieser Schritt führte allerdings auch zu negativen Reaktionen: "Diese IS-Angehörigen bekommen alles", beschwert sich ein Nachbar gegenüber der Deutschen Welle. "Und wir bekommen nichts".
"Mein Sohn war erst dreizehn, als er sich dem IS anschloss", sagt Intissar Ali Hamad dazu. Wie sieht sie den IS heute? "Die Organisation ist nicht gut. Das ist nicht das Leben, das ich wollte. Wir, die Familien der IS-Anhänger, haben am meisten gelitten."
Sie meint damit nicht nur die zwei Jahre, die sie in einem Gefangenenlager verbracht hat. Vor allem bezieht sie sich auf die Armut, in der die Familie gelandet ist, ebenso auch auf die Art, wie viele Menschen ihr nun gegenübertreten würden. "Die Leute haben Angst", sagt sie. "Wenn sie mich anzeigen, werde ich sofort abgeholt." Ohne den Schutz einiger ihrer wohlmeinenden Nachbarn könnte sie nicht hier bleiben. Ihre Kinder würden beschimpft, wenn sie es wagten, außerhalb der Mauern zu spielen, berichtet sie.
Als IS-Witwe stigmatisiert
Doch das schlimmste Problem sei das Stigma, das sie als Witwe eines IS-Kämpfers nun trage. Als "IS-Witwe" erhält Hamad keinerlei staatliche Leistungen, auch keine Witwenrente. Zudem gibt es Probleme mit Dokumenten. Ihr fünfjähriger Sohn wurde in einem Krankenhaus des IS geboren, vom Vater unterschriebene Dokumente sind nicht vorhanden. So kann sie keine gültige irakische Geburtsurkunde ausstellen lassen. Da der Junge für den irakischen Staat schlicht nicht existiert, kann er auch nicht zur Schule gehen. Die Witwe sowie ihre gesamte "IS-Familie“ können nur überleben, weil die Tochter Arbeit in einer Kartoffelfabrik gefunden hat.
Während die irakische Regierung außer der Schließung von Vertriebenenlagern keine Maßnahmen zur Wiedereingliederung von "IS-Familien“ oder zur Versöhnung ergreift, wurden auf lokaler Ebene mehrere Gruppen aktiv. In Mossul, der ehemaligen Hauptstadt des IS-Kalifats, hat es sich der stellvertretende Gouverneur Ali Omar Gabou zur Aufgabe gemacht, die Familien wieder in ihr ehemaliges Zuhause oder an andere Orte zu bringen. Im Bezirk Mahalabia wurden auf diese Weise bereits über tausend "IS-Familien“ umgesiedelt. Das verlief bislang relativ reibungslos. "Sie leben nun weit weg von ihrer ehemaligen Heimat, so dass es keine direkten Konflikte zwischen den Familien und ihren Nachbarn gibt", erklärt er. Wichtig sei, dass die Ehemänner und Söhne der Rückkehrer den Menschen in den entsprechenden Vierteln während der IS-Zeit keinen direkten Schaden zugefügt hätten.
"Es tut ihm leid, dass er sich so entschieden hat"
Auch IS-Mitglieder selbst konnten zurückkehren, allerdings erst, nachdem sie sich offen von der Gruppe distanziert hatten. Oft gibt es einen Bürgen, jemanden, der mit seinem Wort für die ehemaligen IS-Kämpfer einsteht. Zudem wurden alle Rückkehrer von den Sicherheitskräften überprüft, die sie auch weiterhin im Auge behalten.
Seif (Name geändert) ist einer von drei IS-Jugendlichen, die mit ihren Familien nach Mahalabia zurückkehren konnten. Als er sich 2014 dem IS anschloss, war er 17 Jahre alt. Sein Vater sagt, Seif habe nur eine Nacht im Ausbildungslager verbracht, dann habe er ihn herausgeholt - eine Geschichte, die über Jugendliche, die sich dem IS angeschlossen hatten, häufig erzählt wird. Vor seiner Rückkehr hat Seif eine Haftstrafe in Irakisch-Kurdistan verbüßt. "Es tut ihm leid, dass er sich so entschieden hat", sagt sein Vater. "Jetzt will er mit seinem Leben weitermachen."
Die Familie des Jungen gilt jetzt als "IS-Familie“ - sowohl wegen Sohn Seif als auch aufgrund der Tatsache, dass sie während der Besatzung durch den IS in Mahalabia geblieben ist. Sein Vater, hier nur Abu Seif genannt, ist darüber verärgert - er sieht sich selbst als Opfer. "Es war eine harte Zeit, und ich habe alles verloren. Zwei unserer Häuser wurden während der Kämpfe zerstört. Mein Hof mit seinen 32 Kühen wurde bombardiert, weil es nebenan eine Versammlung des IS gab."
"Unsere Kinder haben zusammen gespielt"
Seif selbst hat Mahalabia wieder verlassen. Er ging nach Kurdistan, um dort zu arbeiten. Dies sei besser für die Gemeinschaft, meint Hussein Ahmed, ein Nachbar der Familie. Dabei hatte er selbst Seif aus dem örtlichen Gefängnis abgeholt, in dem er nach seiner Rückkehr aus dem kurdischen Lager eingesperrt war. "Unsere Kinder haben zusammen gespielt. Und die Familie von Seif hat kein Auto", begründet er seinen Entschluss zur Hilfe. Haben die Nachbarn wieder Vertrauen zueinander? "Die Chance, dass er sich dem IS wieder anschließt, ist gering, da man inzwischen verstanden hat, dass das, was der IS getan hat, nichts mit Menschlichkeit oder Gerechtigkeit zu tun hat."
Außer Seif sind nur zwei weitere vom IS rekrutierte Jugendliche in die Stadt zurückgekehrt - zwei unter Hunderten von Familien, deren Söhne sich den Dschihadisten angeschlossen haben. "Sie sind hier geboren und haben ihren Besitz hier. Wenn wir sie zurückweisen, könnten sie sich gegen uns wenden." Inzwischen, sagt Scheich Ahmed, sei "alles wieder normal, wie in den Zeiten vor dem IS". Hier, wie auch in Hawija, spricht niemand offen über das, was geschehen ist. Entschuldigungen werden nicht ausgesprochen, Erfahrungen nicht ausgetauscht. Scheich Ahmeds Sohn Osama, der früher mit Seif befreundet war, sagt: "Ich vermeide das Thema, wenn ich mit ihm spreche, und auch er selbst spricht nicht darüber."
In Mossul beklagt der stellvertretende Gouverneur, dass die Politiker in Bagdad keine Ideen hätten, wie IS-Mitglieder und ihre Familien rehabilitiert werden könnten. Sorge die Regierung aber nicht für deren Reintegration, könnten sie sich anderen radikalen Gruppen anschließen. "Dann werden wir den Kreislauf der Gewalt niemals durchbrechen", sagt Ali Omar Gabou. "Die Frauen und Kinder tragen keine Schuld an den Verbrechen des IS. Doch wenn wir ihr Problem nicht lösen, wird es wachsen - und damit auch das Risiko eines neuen Konflikts."
© Deutsche Welle 2021
Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.