100 Jahre Demokratie mit Höhen und Tiefen
Vor 100 Jahren wurde die Republik Türkei, so der offizielle Name, gegründet. Seitdem erlebte das Land den Wandel vom Ein-Parteien- zum Mehrparteien-System, einen Militärputsch im Jahr 1960, beinahe ein ganzes Jahrzehnt von Straßenkämpfen in den 1970er Jahren, gefolgt von einem weiteren Putsch und vielen instabilen Koalitionsregierungen in den 1990er Jahren - bis schließlich 2002 eine islamistische Partei an die Macht kam.
All diese kleineren und größeren Rückschritte hat der türkische Staat, der auf westlichen Idealen wie Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Säkularismus gründet, überstanden.
Doch wie widerstandsfähig sind die demokratischen Institutionen an seinem 100. Geburtstag noch?
Enttäuschung nach vielversprechendem Start
Unter der Führung von Recep Tayyip Erdogan hat sich die Türkei zunehmend dem Osten zugewandt. Sie setzte immer stärker auf islamische Werte, fand neue Freunde und Verbündete in der arabischen Welt und unterstützte Militäraktionen unter anderem in Somalia und errichtete eine Militärbasis in Katar, wo die türkische Präsenz willkommen geheißen wurde.
Sinem Adar, Türkei-Expertin am Center for Applied Turkey Studies (CATS) in Berlin, sieht die Entwicklung, die das Land unter Erdogan genommen hat, eher negativ. "Die Türkei ist heute ein Paradebeispiel für eine zunehmend autoritäre Praxis." Seit den späten 2000er Jahren habe sich das Land beständig von Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung wegbewegt.
Angesichts des ursprünglich vielversprechenden Starts sagt Adar: "Nach den beinahe sieben Jahrzehnten an Erfahrungen mit Wahlen unter Beteiligung mehrerer Parteien und der Integration in westliche institutionelle Strukturen ist der Untergang der türkischen Demokratie wohl eines der niederschmetterndsten Beispiele für einen globalen Trend."
Der Islam gewinnt an politischem Einfluss
Eine der Grundlagen bei der Gründung der Republik war der Säkularismus oder Laizismus - ein Konzept, das auf dem französischen Modell der strikten Trennung von Religion und Staat basiert. Das Osmanische Kalifat wurde 1924 abgeschafft, weniger als ein Jahr nach Gründung der Republik. Diyanet, das Direktorat für Religiöse Angelegenheiten, wurde stattdessen gegründet, um dem Staat mehr Kontrolle über den Islam zu geben.
Türkei-Expertin Adar betont, dass es zwischen Religion und Politik seit Gründung der Republik "immer einen schmalen Grat gab". Doch die Jahre, seitdem Erdogans AKP regierte, brachten eine deutliche Veränderung. Man könne von einem "klaren Trend zur schrittweisen Ausbreitung des Islam in das öffentliche Leben hinein" sprechen, vor allem in den letzten zehn Jahren.
Diyanet sei unter der AKP-Regierung zu einem entscheidenden politischen Akteur geworden, erklärt Adar. "Diyanet hat mehr Macht als je zuvor, mit zunehmendem politischem Gewicht und ständig wachsenden Ressourcen. Vor allem nach dem gescheiterten Putschversuch von 2016 kommt der Institution eine Schlüsselrolle zu. Sie verbreitet das Narrativ, die herrschenden Eliten in der Türkei unter Erdogans Führung verkörperten den Willen des Volkes und verteidigten die wahren und nationalen Werte des Landes, ebenso wie seine territoriale Integrität."
Kann Erdogan die Wahlen verlieren?
Am 18. Juni 2023 wählen die Türken ihren nächsten Präsidenten. In einigen Umfragen sieht es so aus, als könnte der keineswegs unumstrittene Erdogan die Wahlen verlieren, wenn es der Opposition gelingt mit einem gemeinsamen Kandidaten anzutreten.
Doch das ist noch nicht abzusehen. Der sogenannte Sechser-Tisch, zu dem sich sechs Oppositionsparteien zusammengetan haben, gab noch keine Kandidaten bekannt. Sie wollen die Rückkehr zu einem parlamentarischen System und die Macht des Präsidenten einschränken. Diese war nach einer Änderung der Verfassung im Jahr 2018 bedeutend ausgeweitet worden.
Entgegen weit verbreiteter Überzeugungen, auch in der Türkei selbst, hat das Land funktionierende demokratische Institutionen, die freie und faire Wahlen bis zu einem gewissen Grad ermöglichen. Einen Hoffnungsschimmer für diejenigen, die sich eine andere Regierung wünschen, gab es 2019: Bei den Kommunalwahlen gewannen die Kandidaten der Opposition in den zwei größten türkischen Städten Istanbul und Ankara gegen die Kandidaten der AKP.
Welche Chancen auf Veränderung gibt es also? Für einen Machtwechsel seien faire Wahlen entscheidend. "Um Wahlen zu gewinnen", so Adar, müsse die Opposition erst mal sicher stellen, dass es an der Wahlurne mit rechten Dingen zugeht.
Was bringt die Zukunft für die Türkei?
2023 ist sowohl für die Türkei selbst als auch für die Beziehungen der Türkei zur EU ein entscheidendes Jahr, meint Cigdem Nas, Generalsekretärin der Economic Development Foundation in Istanbul, einem der führenden Think Tanks für die türkisch-europäischen Beziehungen.
"Sollte die Opposition gewinnen, dann wird sie sich vor allem auf eine Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie konzentrieren, und ein solcher Prozess wird auch eine Agenda der Demokratisierung beinhalten. In einem solchen Szenario könnte man eine Wiederbelebung einer EU-Perspektive für die Türkei erwarten", sagt sie.
Doch man solle realistisch bleiben: "Wenn es keine wirkliche Veränderung bei den türkischen Plänen für einen EU-Beitritt gibt, dann wird sich eher die Natur der Beziehungen verändern. Weg von der Perspektive eines Beitrittskandidaten hin zu einer interessengeleiteten Partnerschaft."
"Auch dann bleibt die Türkei Teil einer weiter gefassten europäischen Architektur und ein entscheidender Faktor für die europäische Sicherheit," so Nas. Und weil kein Ende des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine abzusehen ist, wird Ankaras Rolle als Vermittler, in der es schon einige Erfolge verbuchen konnte, auch im neuen Jahr diplomatische Früchte für die Türkei tragen.
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