Globalgeschichte aus islamischer Perspektive

Der gebürtige Afghane Tamim Ansary hat eine Weltgeschichte verfasst, in deren Mittelpunkt der Islam steht. Die Erzählung spannt einen Bogen vom Leben des Propheten bis zum 11. September 2001 – aus muslimischer Sicht. Klaus Heymach hat das Buch gelesen.

Tamim Ansary; Foto: &copy Campus Verlag
Tamim Ansary, geboren 1948 in Kabul, wuchs in Afghanistan auf, der Heimat seines Vaters. Seine Mutter war Amerikanerin mit finnischen Wurzeln. Sein Buch "West of Kabul, East of New York"</wbr> wurde zum Bestseller.

​​Von einem texanischen Schulbuchverlag bekam Tamim Ansary vor zehn Jahren den Auftrag, eine neue Weltgeschichte für den Unterricht der Mittelstufe zu entwickeln.

Zehn Einheiten mit jeweils drei Kapiteln hatte der Verlag vorgesehen. Doch welche 30 Ereignisse stehen für die Geschichte der Menschheit? Jedenfalls nicht mehr als ein Kapitel Islam, darauf beharrten die Verleger.

Doch als Infokasten, Exkurs oder Randnotiz kam der Islam dem in Kabul aufgewachsenen Autor zu kurz. Ansary, der mit 16 Jahren als Highschool-Stipendiat in die USA kam, ist kein Missionar, nicht mal praktizierender Muslim – nur sein Familienname weist ihn als Nachfahre der Ansar aus, der "Unterstützer", wie die ersten Muslime aus Medina genannt werden.

Dennoch ist Ansary davon überzeugt, dass es neben der westlichen Schulbuch-Geschichte auch noch eine zweite Version gibt: "Eine vollkommen eigenständige und alternative Geschichte der Welt, eine Konkurrenzerzählung zu derjenigen, die ich für den texanischen Verlag schreiben sollte."

Der Islam – eine eigene Zivilisation

Denn der Islam sei nicht nur eine Form des Glaubens, sagt Ansary. Er könne genauso gut in einem Unterrichtsfach neben Kommunismus, Demokratie und Faschismus besprochen werden, denn er sei auch ein gesellschaftliches Projekt zur Ordnung von Politik, Wirtschaft und Justiz – und eine eigene Zivilisation, mit herausragenden Leistungen in Kunst und Handwerk sowie eine von zahlreichen Weltgeschichten.

​​Wie zwei parallele Universen hätten der Westen und das islamische Kernland Jahrhunderte lang nebeneinander existiert – und einander ignoriert. Jedes habe sich lange Zeit selbst für den Mittelpunkt der Weltgeschichte gehalten, schreibt Ansary. Erst im 17. Jahrhundert begannen die beiden Perspektiven einander zu überschneiden, so Ansary. "Und da der Westen mächtiger war, siegte seine Erzählung und unterdrückte die andere."

Auf 350 Seiten erzählt Ansary jetzt die andere Version. "Die unbekannte Mitte der Welt" ist kein Schulbuch und keine wissenschaftliche Abhandlung geworden, der Autor ist kein Historiker. Anekdotenreich und unterhaltsam schildert der 61-Jährige, der heute in San Francisco lebt, "was nach Vorstellung der Muslime passierte" – ein "menschliches Drama".

Unvermeidlich erscheinende westliche Dominanz

Dabei stellt Ansary nicht nur die Lebensläufe von Kalifen, Sultane und Reformer nebeneinander, sondern er geht auch den großen Fragen auf den Grund, die das gespannte Verhältnis von Orient und Okzident auch heute prägen: Wie kam es zu dieser heute unvermeidlich erscheinenden Dominanz des Westens? Was führte zum Zusammenprall dieser beiden Universen am 11. September 2001? Befinden wir uns wirklich in einem Kampf der Kulturen?

Persisches Astrolabium, 19 Jh. (Quelle: Wikipedia)
"Wie muslimische Erfinder an der Schwelle zu vielen Entdeckungen standen – und trotzdem nicht auf den Gedanken kamen, den "Dampfantrieb in Maschinen einzusetzen"</wbr> - Persisches Astrolabium aus dem 19. Jahrhundert

​​Die Erörterung dieser Fragen macht das Buch für Leser aus West und Ost gleichermaßen zu einem Gewinn. Denn Ansary verfolgt mit seiner Weltgeschichte einen zutiefst aufklärerischen Ansatz. Er legt dar, wie die Naturwissenschaften, wie wir sie heute kennen, fast schon unter den Kalifen der Abbasiden entstanden wären – sieben Jahrhunderte vor ihrer Geburt in Westeuropa.

Wie muslimische Erfinder an der Schwelle zu vielen Entdeckungen standen – und trotzdem nicht auf den Gedanken kamen, den "Dampfantrieb in Maschinen einzusetzen, mit denen sich massenweise Konsumgüter herstellen ließen".

In einer Gesellschaft mit Millionen von Handwerkern, Waren im Überfluss und effizienten Netzwerken hätten die Muslime in der Industrialisierung keinen Nutzen gesehen, schreibt Ansary. Merkantilismus, Reformation, Individualismus und Entdeckerdrang spielten den Europäern in die Hände: Die Umstände passten einfach.

"Handel ist das Gegenteil von Krieg"

Und dann begegneten sich die beiden Welten wieder. Nach den Kreuzzügen, die Ansary als weitaus weniger bedrohlich für den Islam beschreibt als die anschließenden Mongolenstürme, kamen die Europäer als Händler. Ein Kampf der Kulturen sei das nie gewesen, betont der Autor: "Handel ist doch schließlich das Gegenteil von Krieg."

In den USA erlangte Ansary mit einer zunächst nur an Freunde verschickten Email Berühmtheit, in der er sich im September 2001 mit den Plänen der Bush-Regierung auseinandersetzte, Afghanistan in die Steinzeit zurückbomben zu wollen ("Das Problem: Afghanistan ist bereits in der Steinzeit.").

Am Hindukusch und im Irak wolle der Westen Freiheit und Demokratie verteidigen, schreibt Ansary in seinem Buch. Dabei ziele die Rhetorik der militanten Islamisten nicht auf die freiheitlich-demokratische Regierungsform, sondern auf den moralischen Verfall. Sie sagten: "Ihr seid dekadent!", und der Westen antworte: "Wir sind frei!"

Zwei Positionen, die schlicht aneinander vorbei gehen. Sie sind nach Ansicht Ansarys symptomatisch für vieles im Verhältnis zwischen der islamischen Welt und dem Westen. "Jede Seite erkennt die andere lediglich als Figur ihrer eigenen Erzählung", wie es Ansary formuliert. Mit seiner "Weltgeschichte aus islamischer Sicht" öffnet der Autor beiden Seiten die Augen für den jeweils anderen Blickwinkel – damit wenigstens klar ist, worüber gesprochen wird.

Klaus Heymach

© Qantara.de 2010

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de

Tamim Ansary: "Die unbekannte Mitte der Welt. Globalgeschichte aus islamischer Sicht", Campus Verlag, 2010, 367 Seiten. Übersetzt von Jürgen Neubauer, 24,90 Euro

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