Ein grauenhaftes Déjà-vu
An der Ecke Rue Oberkampf/Boulevard Richard Lenoir bietet das Bild am vergangenen Samstagvormittag eine Art grausiges Déjà-vu. Polizeiabsperrungen, Einsatzwagen, bewaffnete Anti-Terroreinheiten auf der einen Seite, auf der anderen die Ansammlung von Fernsehübertragungswagen, Kameras, Journalisten auf der Suche nach Gesprächspartnern.
Es ist exakt die gleiche Situation wie Anfang Januar etwa einen Kilometer entfernt bei dem Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift "Charlie Hebdo". Denn hinter dem nächsten Häuserblock liegt die Avenue Voltaire, wo der blutigste und grauenhafteste Teil der aktuellen Terrorserie in der Nacht zum Samstag stattfand: im Club Bataclan.
Es wird erwartet, dass die Zahl der Opfer noch weiter steigt, die Pariser Staatsanwaltschaft spricht am Abend von 129 Toten und 352 Verletzten, davon 99 in kritischem Zustand. Und noch ist niemand sicher, ob nicht im Laufe des Tages oder Abends die Terroristengruppe erneut zuschlägt. Es wäre das gleiche Muster, wie man es im Januar gesehen hatte.
Zwischen Mitgefühl und Alltag
Gegen Mittag kommen die ersten Pariser mit Blumen, roten und weißen Rosen, die sie an den Seiten der Absperrgitter platzieren. Nur von Weitem können sie die chinesisch-rote Fassade des historischen Theaters aus dem 19. Jahrhundert erahnen, in dem der angesagte Club Bataclan zu Hause ist - Ort des schlimmsten Blutbades in der vergangenen Nacht.
Davor hat die Polizei inzwischen ein riesiges mobiles Labor aufgebaut, um die Überreste der Toten zu identifizieren. Immer noch werden auch Menschen vermisst. Die Notfall-Telefone sind wohl überlastet und die Mitarbeiter dort können viele Fragen nicht beantworten. Nach wie vor suchen verzweifelte Eltern die Krankenhäuser nach ihren Kindern ab.
Auf der für den Verkehr offenen Seite des Boulevards aber fließt der Verkehr weiter, drängeln sich die Taxis an den Kreuzungen. Die Morgenzeitungen bringen blutige Titelfotos und Schlagzeilen wie "Schock und Horror". Die Einwohner des Quartiers aber gehen ihren üblichen Geschäften nach.
Der junge Metzger in seinem kleinen Laden schneidet Kalbfleisch zurecht, und zuckt mit den Schultern: "Was soll man tun gegen solchen Wahnsinn?" Er fühle sich nicht mehr beunruhigt als sonst, wenn einer mit dem Gewehr in seinen Laden stürme, könne er doch auch nichts machen. Hass gegen Muslime? "Nein, das ist doch Unsinn, das sind doch einzelne Verrückte". Und Metzger Oliver glaubt auch nicht, dass die Regierung schuld ist: "Was sollen die denn tun? Hinter jeden Baum einen Flic stellen? Das Leben geht weiter", fasst er zusammen, seine Stimmung ist jedenfalls unaufgeregt und eher fatalistisch.
Es hätte jeden treffen können
Nebenan der Weinhändler in der Rue Oberkampf will ebenfalls der Regierung Hollande keine Vorwürfe machen: "Sie haben doch vernünftige Maßnahmen eingeleitet", und wie sein Nachbar sagt Cyril, dass man doch nicht hinter jedermann einen Polizisten stellen könne. Er wohnt im Viertel - direkt um die Ecke vom Restaurant "Le Petit Cambodge", wo die Attentäter am Freitagabend in der ersten Angriffswelle über ein Dutzend Menschen erschossen haben.
"Freunde waren gerade zu mir zum Essen gekommen, und wir hörten wie es draußen 'pop, pop-pop' machte. Ich sagte noch: Was für Idioten sind das denn, es ist doch nicht der 14. Juli, der Nationalfeiertag. Aber dann haben wir schnell verstanden, dass es echte Schüsse aus einem Schnellfeuergewehr waren und kein Feuerwerk. Und ich dachte noch: Meine Freunde, wenn sie eine halbe Stunde später gekommen wären, könnten sie jetzt auch tot sein."
Auch Weinhändler Cyril betrachtet die Ereignisse eher philosophisch: "Man denkt doch über das Leben nach, in so einer Lage, wie schnell es vorbei sein kann, einfach ohne Grund. Und wir sehen die Bilder von toten Kindern im Mittelmeer im Fernsehen. Die trifft das doch genauso wie uns." Politisch glaubt er, liegt der Hintergrund der neuen Terroranschläge in der falschen Politik im Irak und beim Horror des Bürgerkrieges in Syrien.
Dennoch macht er der französischen Regierung keine Vorwürfe wegen ihrer Beteiligung am Bombardement in Syrien gegen den "Islamischen Staat". Sie könnte sich außenpolitisch nicht heraushalten, meint Cyril. Inzwischen hat auch Präsident François Hollande den IS verantwortlich gemacht für die Anschläge. Schon in der Nacht hatten die Anhänger der Terrormiliz die Anschläge auf Twitter gefeiert.
Dem Terror nicht nachgeben
Beim Bäcker gegenüber warten lange Menschenschlagen vor den Croissants und Broten. Obwohl die Regierung die Pariser aufgefordert hatte, so weit wie möglich zu Hause zu bleiben, scheint sich kaum jemand daran zu halten. Eine gelassenere, weniger aufgeregte Bevölkerung wie diese ist kaum vorstellbar. Ein junger Familienvater unter den Wartenden sagt, dass es ihm leid tue für seine Kinder: "Alles ist geschlossen, die Schulen, die Schwimmbäder, die Museen, man kann nichts mit ihnen unternehmen."
Ansonsten aber sei er dafür, dass man weiter leben solle wie normal. Man dürfe den Terroristen doch nicht die Freude machen, ihretwegen sein Leben zu ändern. Auch er weiß nicht so recht, was die Regierung nach den schon eingeleiteten umfassenden Anti-Terror-Maßnahmen und den Abhörgesetzen vom Frühjahr, jetzt noch tun könnte. Man kann doch nicht alle, die irgendwie verdächtig sind, ins Gefängnis stecken. Ein konservativer Kommentator hatte in der Morgensendung des Infokanals etwas Ähnliches vorgeschlagen.
"Sie sollten zurücktreten, die Regierung Holland hat versagt, und der Innenminister müsste sofort gehen", schimpft der Nachbar in der Warteschlange. Aber keiner von den Umstehenden will ihn darin unterstützen: "Damit würde man den Terroristen doch nachgeben, sich selbst destabilisieren", murmelt eine Dame mit ihrem Kuchenpaket.
Die Kunden in dieser schicken Luxusbäckerei sind bürgerliche Pariser, und was sie an diesem Morgen eint , bei allem Abscheu und Grauen vor den Taten der vergangenen Nacht, scheint eine Art kollektiver Fatalismus: "Wir dürfen jetzt deswegen nicht alle Muslime hassen! So ist eben das Leben, keiner kann verhindern oder vorhersehen, was geschieht. Das Leben geht weiter", so drücken fast alle ihre Gefühle aus.
Und ja, natürlich haben alle großes Mitgefühl vor allem für die Eltern der jungen Leute, die in der Nacht im Bataclan ihr Leben verloren haben. "Es ist doch so furchtbar, warum machen sie ein solches Massaker unter den Jungen", klagte eine ältere Dame. Die Frage muss an diesem Tag ohne Antwort bleiben.
Barbara Wesel
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