Demokratischer Neuanfang
Innerhalb weniger Tage ist Tunesien ein anderes Land. Zwar kehrt nach den gewaltsamen Ausschreitungen und dem Verlust vieler Menschenleben schrittweise etwas Ruhe ein, doch in welche Richtung sich der politische Wandel entwickeln wird, ist noch offen. Militärhubschrauber patrouillieren weiterhin, die Situation bleibt fragil.
Seit dem 17. Januar 2011 gibt es wieder etwas Normalität im Alltag der Tunesier: Viele kehren nach und nach an ihre Arbeitsplätze zurück; die öffentlichen Verkehrsmittel nehmen allmählich wieder den Betrieb auf. Die Mehrheit möchte jetzt, dass die ehemaligen Peiniger und Folterer endlich zur Rechenschaft gezogen werden.
Viele fürchten jetzt um ihre Arbeitsplätze, weil ausländische Firmen und Organisationen ihre Mitarbeiter teilweise ausgeflogen haben. Was bedeutet aber der Regimewechsel für Tunesiens internationale Beziehungen?
Die EU als Handelspartner
Die Beziehungen zur Europäischen Union waren und bleiben zentral. Europa ist der wichtigste Handelspartner für Tunesien; von europäischen Investitionen und Touristen hängen viele Arbeitsplätze ab. Die Verhandlungen über eine weitere Intensivierung der Beziehungen auf der Basis eines "Statut avancé", dem Status eines privilegierten Partnerlandes, waren bereits fortgeschritten, als die "Jasmin-Revolution" begann.
Seit 1998 ist Tunesien über ein Assoziierungsabkommen mit der EU verbunden, das im Rahmen des Barcelona-Prozesses als erstes Abkommen mit einem südlichen Mittelmeeranrainerstaat unterzeichnet wurde. Hauptziel war die Einrichtung einer Freihandelszone mit der EU. Auf der Basis dieses Abkommens wurde im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) 2005 ein erster Aktionsplan für die politische und ökonomische Zusammenarbeit beschlossen. Die technische und finanzielle Zusammenarbeit feierte 2010 ihr dreißigjähriges Jubiläum.
Seit 2010 liefen die Verhandlungen für einen neuen Aktionsplan (2011-2016) und das "Statut avancé", das den Zugang zum europäischen Binnenmarkt und die Teilnahme an europäischen Programmen ermöglichen soll, sowie eine weitere Intensivierung der politischen und ökonomischen Beziehungen. Die tunesische Regierung unter Ex-Präsident Ben Ali hatte großes Interesse an einem erfolgreichen Verlauf der Verhandlungen, so wie Tunesien bislang auch insgesamt in seiner Außenpolitik stark europaorientiert war.
Die Beibehaltung von Ministern aus der alten Regierung - und dies auf zentralen Posten wie Inneres, Äußeres, Verteidigung und Finanzen - wird von weiten Teilen der Bevölkerung abgelehnt.
Gleichzeitig besteht bereits nach wenigen Tagen die große Sorge, dass das Vertrauen der Wirtschaftspartner Tunesiens und der ausländischen Investoren verloren geht, ausländische Investitionen abgezogen werden, und somit das Wirtschaftswachstum – im letzten Jahr betrug es 3,8 Prozent - gebremst wird und noch mehr Arbeitsplätze verloren gehen. Dieses Argument wird auch gezielt von Premierminister Ghannouchi genutzt, um die tunesische Bevölkerung von weiteren Demonstrationen und Streiks abzuhalten und sie zur Rückkehr zum normalen Arbeitsrhythmus anzuhalten.
Klare politische Unterstützung gefordert
Tunesien braucht jetzt die Unterstützung Europas. An die in Europa und im weiteren Ausland lebende tunesische Diaspora wurde bereits appelliert, und Solidaritätsbekundungen aus Europa wurden mit großer Freude und Stolz aufgenommen. Gleichzeitig sind die Demonstranten der Avenue Bourguiba enttäuscht von den vergleichsweise späten und als nicht explizit genug empfundenen offiziellen Erklärungen der europäischen Regierungen sowie der EU.
Insbesondere die französische Außenministerin Alliot-Marie wird für ihre Äußerungen kritisiert, dem Regime Ben Ali noch einen Tag vor dessen Sturz polizeiliche Hilfe angeboten zu haben. Präsident Obama dagegen hat sich vergleichsweise schnell und mit einer klaren Aussage zu Wort gemeldet: Die tunesische Bevölkerung muss ihre Regierung frei wählen dürfen. Die Ankündigung der Sperrung aller Auslandskonten Ben Alis und der Präsidentenfamilie wurde von der tunesischen Öffentlichkeit mit großer Erleichterung aufgenommen. Doch mit Solidaritätsbekundungen ist es nicht getan.
Die EU hat Hilfe bei der Vorbereitung freier und demokratischer Wahlen angeboten und wird voraussichtlich Wahlbeobachter entsenden. Darüber hinaus bereitet sie ein umfassendes Hilfspaket mit Vorschlägen für die neuen tunesischen Verantwortlichen vor, darunter die nicht gerade originelle Option, die bilateralen Handels- und politischen Beziehungen zu verstärken. Laut ENP-Kommissar Stefan Füle soll aber erst eine Beruhigung der Lage abgewartet werden.
Die tunesische Gesellschaft braucht allerdings jetzt Soforthilfe auf zwei Ebenen: zum einen klare politische Unterstützungssignale an die demokratischen Kräfte und nicht an die ehemalige RCD-Riege; zum anderen finanzielle und Sachmittelhilfe für diejenigen, die bereits vor dem Regimewechsel unter dem Existenzminimum lebten oder durch den Regimewechsel nun vor dem Nichts stehen.
Auch kann die EU sich dafür einsetzen, dass die Ankündigungen der Interimsregierung auch tatsächlich eingehalten werden: Freilassung aller politischen Gefangenen, umfassende Meinungs- und Pressefreiheit, Informationsfreiheit, freie und demokratische Wahlen unter internationaler Wahlbeobachtung, lückenlose Aufklärung der Verbrechen des Ben Ali-Regimes.
Vorbildcharakter des politischen Systemwechsels
Die "Jasmin-Revolution" wird von großen Teilen der Bevölkerung getragen. Vor allem weite Teile der Jugend sind begeistert über den plötzlichen Sturz Ben Alis und stolz auf ihre vergleichsweise friedliche Revolution und den Vorbildcharakter für andere Länder in der Region.
Die zentralen Forderungen der Bewegung waren mehr Arbeitsplätze, bessere Lebensbedingungen sowie mehr Freiheit und Demokratie. Wenn die Volkswirtschaft dar nieder liegt, lassen sich diese Ziele allerdings nur schwer umsetzen. Dieses Argument nutzt jetzt auch die alte RCD-Riege, um die Dynamik der Protestbewegung auszubremsen.
Tunesien hat das Potential, sich zu einem demokratischen System zu entwickeln: Tunesien hat nicht nur eine Mittelschicht, ein Wirtschaftswachstum und ein hohes Bildungsniveau vorzuweisen, sondern vor allem eine engagierte Jugend und aktive Intellektuelle, die sich jetzt endlich öffentlich ausdrücken können. Der Wandel in Tunesien kann insofern einen Vorbildcharakter für andere Länder in der Region haben, als sich hier die Bevölkerung erfolgreich gegen ein autoritäres Regime durchgesetzt hat - und das ohne die Hilfe externer Akteure.
In den letzten Jahren hat sich die EU nicht besonders durch lautstarke Kritik am "System Ben Ali" hervorgetan. Jetzt hat sie die Gelegenheit, den politischen Wechsel konstruktiv zu unterstützen und zu begleiten.
Isabel Schäfer
© Qantara.de 2011
Die Politikwissenschaftlerin Dr. Isabel Schäfer ist Senior Researcher in International Relations und Mediterranean Studies an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de
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Die tunesische Opposition ist zersplittert, ein politischer Konsens momentan noch nicht in Sicht. Ein schneller Übergang in eine demokratische Post-Ben-Ali-Ära ist daher nicht zu erwarten. Eine Analyse von Sigrid Faath
Tunesiens Oppositionsbewegung
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Sturz Präsident Ben Alis in Tunesien
Jasminduft und Pulverdampf
Am Anfang stand die Revolte einer vernachlässigten und perspektivlosen jungen Generation. Doch innerhalb kürzester Zeit ist daraus eine beeindruckende und machtvolle Bewegung geworden, die den Autokraten Ben Ali hinweggefegt hat. Von Beat Stauffer