Stückwerk statt Reform
"Nieder mit den Militärprozessen” und "Tunesien ist ein ziviler Staat" rufen die Demonstranten vor dem Berufungsgericht des tunesischen Militärs. Gerade wurde dort der Blogger Yassine Ayari zu sechs Monaten Haft verurteilt, weil er auf Facebook die Armee diffamiert haben soll, so das Gericht.
Untragbar sei es, dass ein Zivilist vor ein Militärgericht gestellt werde, meint Yasmine Kacha, Leiterin des Büros von "Reporter ohne Grenzen" in Tunis. Sie hat Angst, dass der Prozess zu einem Präzedenzfall wird. "'Beleidigung der Armee' kann alles und nichts sein. Dadurch kann morgen ein Whistleblower verurteilt werden, der wichtige Informationen der Öffentlichkeit preisgibt."
Der Fall Yassine Ayari ist für viele Tunesier symptomatisch dafür, dass alte Reflexe und Mechanismen in der Justiz noch immer greifen. Die Reform des Rechtssystems lässt auch vier Jahre nach dem politischen Umbruch auf sich warten. Transparente und faire Wahlen seien ja schön und gut, aber das sei noch lange nicht genug, um aus Tunesien einen demokratischen Staat zu machen, sagt Hasna Ben Slimane, berichterstattende Richterin am tunesischen Verwaltungsgericht. "Legitime politische Kräfte sind wichtig, aber wir brauchen eine weitere Kraft. Die Justiz muss eine Wächterrolle einnehmen."
Vier Jahre Provisorium
Das Rechtssystem zu reformieren ist eine heikle Aufgabe, der sich keiner der bisherigen Übergangsregierungen ernsthaft angenommen, sondern allenfalls Stückwerk verrichtet hat. 93 Richter wurden nach 2011 auf Drängen der Politik entlassen, die meisten kurze Zeit später wieder eingestellt, weil die Entlassungen keinerlei rechtliche Basis hatten.
"Die Exekutive hat damals ein bisschen die Praktiken des alten Regimes wieder rausgeholt. Dabei wollten wir doch dieser Logik nicht mehr folgen", kritisiert die Verfassungsrechtlerin Salsabil Klibi. Solche Auseinandersetzungen zwischen dem tunesischen Justizministerium und den Richtern, habe die Gräben zwischen den beiden Gruppen vertieft, so die Jura-Professorin der Universität Tunis.
Doch nach vier Jahren Provisorium, gegenseitigen Anschuldigungen, Misstrauen der Bevölkerung in die Justiz und des Berufsstandes in sein Ministerium kommt Tunesien um eine Reform des Rechtssystems nicht mehr herum. Die Verfassung, die vor einem Jahr verabschiedet wurde, schreibt bestimmte Reformen vor. So müssen noch in diesem Jahr ein neuer Richterrat gewählt und zum ersten Mal in der Geschichte des Landes ein Verfassungsgericht aufgebaut werden. Justizminister Mohamed Salah Ben Aissa nennt das eine "historische Reform", die die Unabhängigkeit der Justiz garantiere.
Justizreform als Herkulesaufgabe
Mit den beiden neuen Institutionen, dem "Herzstück der Justizreform", stehe und falle die Glaubwürdigkeit der Justiz, so Salsabil Klibi. Doch mit den beiden neuen Strukturen alleine ist es noch lange nicht getan: die zukünftigen Hüter der Verfassung stehen vor einer Herkulesaufgabe. Zwischen den Prinzipien der in sich schon widersprüchlichen Verfassung und den Gesetzen, die in Tunesien in Kraft sind, liegen oft Welten.
"In der Anwendung werden die Richter viele heikle Fragen zu lösen haben", erklärt Salsabil Klibi, "zum Beispiel was die Grenze zwischen Meinungsfreiheit und dem Recht auf freie Religionsausübung angeht oder den Schutz der Privatsphäre." All das zu reformieren und Präzedenzfälle in der Auslegung von Verfassung und Gesetzen zu schaffen, wird Jahre in Anspruch nehmen.
Das schwierigste an der Reform, glaubt Hasna Ben Slimane, sei es, dass man hier eine Maschine im laufenden Betrieb reparieren müsse, ohne dass sie stehen bleibe oder kaputt gehe. "Die Betroffenen müssen sich bewusst sein, welche Gesetze geändert werden müssen. Wir brauchen einen klaren Zeitplan und die Richter müssen verstehen, dass sich Dinge ändern können, da die Verfassung einen neuen Rahmen vorgibt."
Damoklesschwert Versetzung
Als Richterin beim Verwaltungsgericht konnte Ben Slimane bereits vor dem Umbruch 2011 ein bisschen mehr Freiheit genießen als anderswo, da das Gericht weniger politisiert war. "Wir haben es manchmal geschafft, gerechte Entscheidungen zu treffen." Teilweise habe man dafür einen hohen Preis zahlen müssen, "aber was sein muss, muss nun Mal sein", lächelt sie ein wenig stolz. "Die Versetzung war das Damoklesschwert, das immer über uns geschwebt hat. Wer nicht kooperierte, wurde ans andere Ende des Landes versetzt." Eine professionelle, unabhängige Justiz im ganzen Land aufzubauen, die mehr sei als nur eine Bestrafung für die dort arbeitenden Richter, das ist in den Augen von Hasna Ben Slimane eine der wichtigsten Aufgaben der kommenden Jahre.
Dass die Reform der Justiz weit über den eigentlichen Berufsstand hinaus großen Einfluss habe, werde immer wieder vergessen, meint Salsabil Klibi. Sie erinnert daran, dass die wirtschaftliche Krise des Landes ohne Veränderungen im Rechtssystem nicht zu lösen sei. "Wir haben Probleme, die Wirtschaft wieder anzukurbeln, denn den Investoren fehlt das Vertrauen. Und das liegt an der Korruption."
Die Korruption ist auch nach 2011 noch ein großes Problem. Zwar hat der Familienclan des ehemaligen Machthabers Zine El Abidine Ben Ali seine Monopolstellung in allen Bereichen der Wirtschaft verloren. Doch ohne Schmiergeldzahlungen geht auch heute noch in vielen Bereichen sehr wenig voran. Rechtssicherheit sei daher ein ganz wichtiges Thema, so Klibi, und betreffe letztendlich alle Bürger des Landes.
Die Justiz müsse dringend saniert werden, denn letztendlich sei sie es, die Korruption und Steuerflucht Tür und Tor öffne, glaubt sie. "Wir haben eben sehr viele Baustellen, um die wir uns gleichzeitig kümmern müssen", lacht die Verfassungsrechtlerin.
Sarah Mersch
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