Von der traditionellen Freundschaft zur fragilen Partnerschaft?
Der harsche Ton von Staatspräsident Erdoğan und seiner AKP-Regierung gegenüber Deutschland und dem Westen (EU, USA) ist im Kern nicht neu. Im Gegenteil: Es läuft schon seit längerer Zeit ein verbal-aggressiver Frontalangriff auf den "Westen" und Deutschland. Mit tatkräftiger Unterstützung der regierungsnahen Medien wurde ein Feindbild Westen aufgebaut: Deutschland und der Westen seien "Unterstützer des Terrors", um die nationale und territoriale Einheit der Türkei zu zerstören und die erstarkte Türkei zu schwächen. Diese Strategie zielt darauf ab, Stärke nach innen und außen zu demonstrieren und die innenpolitische Unterstützung zu vermehren.
Bereits vor dem aktuellen Streit um Wahlkampfauftritte türkischer Politiker überschritt die Führung in Ankara im gegenseitigen Umgang längst eine bisher kaum hinnehmbare Hemmschwelle. Trotzdem reagierten Deutschland und die EU bislang eher zurückhaltend, um vor allem die Umsetzung des Flüchtlingsabkommens mit der Türkei nicht zu gefährden.
Die aktuelle Eskalation liefert der türkischen Seite die Chance, mit verbalen Provokationen weiter nachzulegen, um interne Unterstützung für das anstehende Volksreferendum für die Einführung eines autokratischen Präsidialsystems zu mobilisieren und die Unterstützung der deutsch-türkischen Community in Deutschland (und in weiteren EU-Staaten) zu erreichen.
Schließlich hatte die Mehrheit der deutsch-türkischen Community bei den türkischen Parlamentswahlen im Juni und November 2015 für die AKP votiert, was zeigt, dass Präsident Erdoğan und die AKP sehr beliebt sind.
Der rhetorische Aktionismus von Präsident Erdoğan und seiner AKP-Regierung basiert auf nationalistisch-islamischen Inhalten und auf einem aggressiven Kurs. Er stößt auf Unterstützung auch bei einem Großteil der deutsch-türkischen Community, da er Stärke, hegemoniale Führungsrolle und Sicherheit verspricht.
Bundesregierung unter Druck
Der Druck auf die Bundesregierung ist in doppelter Hinsicht gestiegen. Zum einen muss sie auf den aggressiven türkischen Kurs reagieren und gleichzeitig darauf achten, die Kooperation mit der Türkei in der Flüchtlingskrise nicht zu gefährden. Aufgrund der anstehenden Bundestagswahlen in Deutschland ist das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei ein brisantes innenpolitisches Wahlkampfthema. Daher ist die Bundesregierung bemüht, dass das Abkommen weiterhin Gültigkeit besitzt.
Zum anderen muss die Bundesregierung auch im Einklang mit den Anforderungen handeln, die aus der kritisch eingestellten deutschen Öffentlichkeit kommen und eine entschiedene und klare Position gegenüber der Türkei einfordern.
Nun ist der Wahlkampfauftritt türkischer Regierungsmitglieder in Deutschland nichts Neues. Auch in der Vergangenheit hat es diesen gegeben, wie zuletzt anlässlich der türkischen Parlamentswahlen 2015. Obwohl die Wahlkampfauftritte in Deutschland in der Regel in der deutschen Öffentlichkeit kritisch gesehen wurden, blieb ein Streit wie der aktuelle dennoch aus. Deshalb stellt sich die Frage, worin die wesentlichen Ursachen der aktuellen Eskalation liegen.
Fakt ist, dass sich die deutsch-türkischen Beziehungen seit längerer Zeit in einem Eskalationskontinuum befinden. Ein wesentlicher Faktor liegt darin, dass ein Entfremdungsprozess auf der Werteebene auf Hochtouren ist. Dieser betrifft das Verständnis von Demokratie und demokratischem Regieren, was die Basis für eine zuverlässige und stabile Partnerschaft sowie die EU-Beitrittsfrage substanziell berührt.
Spätestens seit der brutalen Niederschlagung der regierungskritischen Gezi-Proteste im Sommer 2013 ist der autoritär-autokratische Staats- und Regierungskurs unter Staatspräsident Erdoğan spürbar gestiegen.
Die Monopolisierung der Macht im Staat
Dem türkischen Präsidenten geht es im Wesentlichen darum, die Macht im Staate zu monopolisieren. Dies geschieht auf Kosten demokratiepolitischer Grundlagen, die für die innere Verfasstheit demokratischer Staaten unerlässlich sind: allen voran Meinungs- und Gedankenfreiheit, Pressefreiheit, Unabhängigkeit der Justiz, Schutz von Minderheiten.
Dazu gehört auch der Krieg gegen die PKK und die Repressionen gegen die politische Kraft der Kurden, die HDP und die von ihr erfolgreich geführten zahlreichen Bezirksverwaltungen. Der gescheiterte Militärputsch vom Juli 2016 beschleunigte diese Entwicklungsprozesse dramatisch – und ebnete den Weg für das anstehende Referendum über die Einführung des Präsidialsystems am 16. April 2017.
Auch die regionalpolitischen Ambitionen der Türkei unter Erdoğan verstärkten die Unwägbarkeiten in den Beziehungen. Denn diese überzogenen außenpolitischen Ambitionen waren nicht immer vereinbar mit der Partnerschaft zu Deutschland. Und sie erhöhten die Differenzen in verschiedenen Politikfeldern. So geriet der außen- und regionalpolitische Kurs teilweise in Konfliktlinien mit den Bündnispartnern und forcierte den Entfremdungsprozess. Dies nahm insbesondere im Zuge des Arabischen Frühlings und des Krieges in Syrien deutlich zu.
Obwohl die EU-Beitrittskandidatin sich immer mehr von den Kopenhagener Kriterien entfernte, schauten Deutschland und die EU eher tatenlos zu und versäumten es, frühzeitig klar und entschieden auf die Erosion der Demokratie in der Türkei zu reagieren.
Denn aus ihrer Sicht spielt(e) die strategische Bedeutung der Türkei eine viel stärkere Rolle als die Forcierung einer EU-kompatiblen Türkei. Dieser bislang dominierende sicherheitspolitisch-strategische Blick der EU und Deutschlands auf die Türkei kalkuliert Kooperation auch jenseits von demokratiepolitischen Fehlentwicklungen bewusst ein, während die Stärkung der demokratischen Entwicklung eine nachrangige Rolle spielt. Doch ohne eine politisch stabile und demokratisch gestärkte Türkei wird auch die Kooperation immer brüchiger.
So bleiben die beiderseitigen Beziehungen weiterhin fragil: Die Kooperation ist verhältnismäßig unsicherer geworden, weil die Krise auf der Werteebene die Grundlagen für eine zuverlässige und stabile Partnerschaft aushöhlt. Solange diese Krise im Kern nicht behoben ist, wird der unkalkulierbare Beziehungszustand weiter anhalten.
Entschiedenes Handeln anstatt Verbote
Doch ein generelles Verbot für die Wahlkampfauftritte türkischer Regierungsmitglieder würde weder die Krise auf der Werteebene entschärfen können, noch verhindern, dass ein Großteil der Deutsch-Türken für Staatspräsident Erdoğan und die AKP.
Keine Frage, der Einfluss türkischer Politik hierzulande seit der Machtübernahme Erdoğans und seiner AKP-Regierung ist spürbar gestiegen. Denn die aktive Einflussnahme auf Auslandstürken ist ein integraler Bestandteil der hegemonialen türkischen Außenpolitik. Davon ist eben auch Deutschland besonders betroffen, weil hier viele Migrantinnen und Migranten aus der Türkei leben.
Bislang hat Deutschland den Einfluss türkischer Politik nicht unterbinden bzw. reduzieren können, um den türkischen Partner nicht zu verlieren. So zeigen die Spionagevorfälle in der von deutscher Seite als Ansprechpartner anerkannten DITIB nicht nur die Dimensionen der türkischen Einflussnahme, sondern auch die zu Tage tretende Ohnmacht deutscher Politik.
Deshalb ist es wichtig, die bisherige zurückhaltende und passive Zuschauerrolle abzulegen und aktiv zu handeln. Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit ist unteilbar. Diese zu schützen ist das oberste Gebot. Wie und in welchen Grenzen die türkischen Regierungsvertreter hierzulande Gebrauch machen können und dürfen, sollte daher von deutscher Seite entschieden klar und wirksam kommuniziert und umgesetzt werden.
Gülistan Gürbey
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PD Dr. habil. Gülistan Gürbey ist Privatdozentin am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin.