Was nicht passt, wird passend gemacht
Ende April wurde in Le Parisien ein Manifest zum sogenannten Neuen Antisemitismus veröffentlicht. Rund 300 namhafte Persönlichkeiten aus verschiedensten Teilen der Gesellschaft hatten ihren Namen unter den Aufruf gesetzt, u.a. der ehemalige Präsident Nicolas Sarkozy sowie der Ex-Premier Manuel Valls.
Unter "Neuer Antisemitismus" wird im Wesentlichen verstanden, dass der Antisemitismus heutzutage nicht mehr wie in der Vergangenheit von der radikalen Rechten ausgeht, sondern im Gegenteil primär als Phänomen bei den Muslimen Europas zu verorten sei. Damit wird aber auch, so meinen Kritiker, eine Täter-Opfer-Umkehr begangen, indem der Fokus auf die sozio-ökonomisch weitgehend marginalisierten Muslime gelegt wird, während zum einen der Antisemitismus der Mehrheitsgesellschaft entzogen wird und zum anderen die Neue Rechte, in welcher nach wie vor Antisemitismus virulent ist, aus der Verantwortung entlassen wird.
Zudem hat sich die Neue Rechte in den letzten Jahren sukzessive dieses Diskurses angenommen, um sich mit Juden gegen Muslime zu stellen. Die Reise einer mehrköpfigen pan-europäischen Delegation von FPÖ, Die Freiheit, Vlaams Belang und Schwedendemokraten nach Jerusalem im Dezember 2010 stellte eine Zäsur für die Neue Rechte Europas in ihrem offiziellen Verhältnis zu Israel und den Juden dar.
Ein "Islam französischer Prägung"
Ein besonders interessanter Aspekt des französischen Manifests ist die Forderung nach einer "Veränderung des Korans". Geht es nach dem Manifest, so seien in Anlehnung an das Zweite Vatikanische Konzil und die Nostrae Aetate, welche die Beziehung der Katholischen Kirche zu Andersgläubigen, insbesondere Juden und Muslimen, neu definierte, die antisemitischen Positionen im Islam aufzugeben.
Im Manifest ist von einer Abrogation des Korans die Rede, was offen lässt, wie diese genau auszusehen habe. Damit "religionisieren" sie den Antisemitismus, klammern den israelisch-palästinensischen Konflikt aus und übersehen geflissentlich, dass im historischen Verlauf der islamischen Kalifate das Judentum von Pogromen wie in Europa stets ausgenommen war. Doch im Manifest wird die Behauptung aufgestellt, dass der Koran zum Töten von Juden und Christen aufrufe. Den Koran zu verändern würde bedeuten, einem "Islam französischer Prägung" den Weg zu ebnen.
Mit Nostrae Aetate hatte einst die Katholische Kirche mit ihrer Verteufelung der Juden gebrochen, die die Kreuzigung Jesu Christi zur Kollektivschuld des jüdischen Volkes machte. Der Islam kennt keine vergleichbare theologische Position. Und selbst die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Juden folgten auf friedliche Beziehungen und sind nicht theologischer, sondern politischer Natur, auch wenn der Antisemitismus mit der Gründung Israels später "religionisiert" wurde.
Warum den Koran ändern?
Es ist gleich in zweifacher Hinsicht paradox, dass diese Forderung von einer Liste kommt, der nicht wenige jüdische Persönlichkeiten angehören. Denn eigentlich sollten sich insbesondere jüdische Europäer darüber im Klaren sein, dass im christlichen Antisemitismus die Talmud-Hetze seit dem 12. Jahrhundert Tradition hat. Mithilfe einer selektiven Zitierung von Stellen aus dem Talmud sowie der Midrasch versuchte man damals zu erklären, warum Juden angeblich Nichtjuden hassen sowie sexuelle Perversionen und andere unmoralische Taten begehen.
Dass dieses Manifest sogar von Antisemitismusforschern unterzeichnet wurde, ist umso bedenklicher. Denn somit kann diese Forderung nicht auf religiösen Analphabetismus zurückgeführt werden, wie den Worten eines muslimischen Unterzeichners zu entnehmen ist, der behauptet, dass die Worte Gottes im Koran nicht interpretierbar seien. Der Fokus auf die Regulierung des Wort Gottes der Muslime hat aber eine längere Geschichte und ist bei weitem nicht auf ein eher linkes oder liberales Spektrum zu begrenzen.
Zudem scheint die Funktion dieser Forderung eindeutig ein nationalstaatliches, politisches Projekt stärken zu wollen. Denn unmittelbar nach dem scheinbaren Ziel, dass "kein Gläubiger sich mehr für eine kriminelle Tat auf den heiligen Text" beziehen könne, folgt sogleich die Hoffnung, dass dies einem "französischen Islam" entspreche. Das passt wiederum zur jüngsten Forderung Emmanuel Macrons nach einer "Neustrukturierung des Islams in Frankreich", was wiederum die Schaffung eines "französischen Islams" vorsieht. Diese Logik fügt sich in die allgemeine Tendenz europäischer Nationalstaaten ein, welche die nationale Regulierung des Islams – insbesondere vonseiten entsprechender Innenministerien – vorantreibt.
Und darin fällt auch die Regulierung des Korans. Der derzeitige österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz hat in seiner vorherigen Funktion als Integrationsminister eine Einheitsübersetzung des Korans gefordert. Dies solle dem IS nicht mehr ermöglichen, auf den Koran Bezug zu nehmen, so der damalige Integrationsminister. Nachdem diese Forderung keinen Eingang in das neue Islamgesetz im Jahre 2015 gefunden hat, steht sie wieder im neuen Regierungsprogramm, das die christdemokratische ÖVP mit der rechtspopulistischen FPÖ geschlossen hat. Darin heißt es, dass die Glaubensgrundlagen des Islams öffentlich gemacht werden sollen und eine authorisierte Koranübersetzung abgegeben werden solle.
Counter-Jihad und islamophobe Netzwerke
Der eigentliche Ursprung dieser Forderung ist jedoch in der sogenannten Counter-Jihad-Bewegung zu finden. Unter dieser Bezeichnung finden sich unterschiedliche Akteure zusammen. Diese Bewegung will eine vermeintliche Islamisierung des Westens stoppen und setzt sich aus Neokonservativen (z.B. Christine Brim), der Christlichen Rechten (z.B. Patrick Sookhdeo), den Neuen Rechte (z.B. Filip Dewinter) sowie revisionistischen Zionisten (z.B. Arieh Eldad) zusammen. Von den Counter-Jihad-Aktivisten wird einer der Unterzeichner des Manifests, Philippe Val, als Opfer für seinen Aktivismus gegen den Kampf gegen die Islamisierung betrachtet, entlang anderer Personen wie dem Leiter der britischen EDL, Tommy Robinson oder einer zentralen Akteurin der transnationalen Counter-Jihad-Bewegung, Elisabeth Sabaditsch-Wolff.
Die Zweite Counter-Jihad-Konferenz in Wien wurde 2008 mitunter vom Wiener Akademikerbund organisiert. Diese veröffentlichten 2008 einen 15-pünktigen Forderungskatalog. Dazu zählten z.B. die Forderung nach Hinterlegung einer beglaubigten Übersetzung des Korans, um die Glaubensgrundlagen des Islams in Erfahrung zu bringen. Muslime, die im öffentlichen Dienst tätig sein wollen, müssten sich dann zunächst von jenen Versen distanzieren, die die "Unterordnung unter die Weisungen 'ungläubiger' Beamter und Urteile 'ungläubiger' Richter untersagen". Das gelte auch für Lehrer, die sich von der Benachteiligung von Frauen, Körperstrafen und Gewalt gegen Ungläubige distanzieren sollen.
Von ihrer islamophoben Lesart ausgehend, die obige Personen für allgemein gültig erklären, soll damit staatlichen Behörden die Intervention in religiöse Angelegenheiten ermöglicht werden. Es legitimiert staatliche Behörden, die aufgrund des säkularen Prinzips der Trennung von Kirche und Staat eine solche Einmischung eigentlich verhindern sollen, für eine Intervention. Und das Manifest ebnet den Weg zu genau dieser Intervention, durch welche überhaupt erst das Feld der Religion zur Definition für nicht-religiöse Akteure ermöglicht wird.
Farid Hafez
© Qantara.de 2018
Farid Hafez ist Politologe an der Universität Salzburg und Senior Research Scholar bei The Bridge Initiative an der Georgetown University in Washington D.C.