Gaddafis Bildungswüste

In der Gaddafi-Ära waren Lehrinhalte an den Universitäten ideologisch gefärbt, Studenten konnten Prüfungen bestehen, weil sie sich besonders patriotisch zeigten oder über gute Beziehungen zum Regime verfügten. Das soll sich nun gründlich ändern, wie Alfred Hackensberger aus Tripolis berichtet.

Von Alfred Hackensberger

Die Universität von Tripolis liegt auf einem, riesigen, unüberschaubaren Gelände, auf dem man ein Auto braucht, um von Fakultät zu Fakultät zu kommen. "Freies Libyen" steht an der Mauer des Pförtnerhauses. Auf dem Dach flattert die rot-schwarz-grüne Fahne der Revolution.

Die Wachen am Eingang haben viel zu tun, seit das Semester wieder begonnen hat. "Wir haben über 120.000 Studenten und ein Lehrpersonal von rund 5.000 Personen", erklärt Dr. Feisel Khrekshi, der neue Dekan der größten libyschen Universität. "Bei einer Bevölkerung von nur sechs Millionen zeigt das, wie wichtig diese Institution für den Neuaufbau des Landes ist."

Khrekshi sitzt im Büro des vormaligen Leiters, der entlassen wurde und gegen den ein Untersuchungsverfahren läuft. Es ist ein fast 100 Quadratmeter großes Zimmer mit einem riesigen, überdimensionierten Schreibtisch.

Hörsaal der Universität Tripolis; Foto: privat
Studieren wie es dem Revolutionsführer gefällt: An den libyschen Universitäten wurde als Lehrmethode auf stures Memorieren von Fakten und Daten gesetzt. Viele Lehrbücher waren aus ideologischen Gründen verboten.

​​Khrekshi, der gelernte Gynäkologe arbeitet hier sieben Tage die Woche, nicht weniger als zwölf Stunden täglich. "Wir fangen bei Null an und da muss man anpacken." Es gebe soviel zu tun, denn fast alles müsse neu organisiert und restrukturiert werden. Man ist auf der Suche nach neuen Professoren, erstellt neue Lehrpläne und neue Studienmaterialen. "Das Gaddafi-Regime hat eine Wüste hinterlassen. "Wir stehen vor einem Scherbenhaufen und brauchen einfach alles."

Bildungsleitfaden "Grünes Buch"

Unter Gaddafi sei das gesamte Bildungssystem eine Katastrophe gewesen und die Universität ein Musterbeispiel dafür. "Gelehrt wurde nicht. Es ging um Kontrolle und Glorifizierung des Führers", so Khrekshi. Soziologie oder Politik seien nur auf das "Grüne Buch" konzentriert gewesen. Jene Fibel, die aus der Feder Gaddafis stammte und die er als ideologische Basis des libyschen Staates festsetzte.

"Selbst Geographie war nicht neutral. Gaddafi benannte nach Gutdünken, Flüsse, Gegenden oder auch Länder neu." Studiengänge wie Anthropologie gab es einfach nicht. "Das muss alles ganz neu eingerichtet werden", sagt der 55-jährige Dekan. Gleichzeitig müsse auch noch eine Neufassung der libyschen Geschichte erstellt werden. Sie sei auf Anweisungen von oben immer wieder verändert worden.

Improvisation gefragt

Khrekshi hat eine Kommission eingesetzt, die möglichst schnell eine neue Geschichtsschreibung liefern soll. "Jeder Hochschulabsolvent muss sie ab sofort beherrschen." Man könne doch die jungen Leute nicht mit Gaddafis Version in die Welt entlassen, fügt Khrekshi an. "Es ist ein Neuanfang, bei dem die Professoren vorerst gezwungen sind, in ihren Seminaren und Vorlesungen zu improvisieren, aber im Zuge der Freiheit macht das niemand etwas aus."

An seinen ersten Arbeitstag erinnert sich Khrekshi mit breitem Schmunzeln. Nach dem Einmarsch der Rebellen am 21. August in Tripolis wurde unter seiner Leitung das Universitätsgelände zurückerobert. Mit 25 seiner Studenten, die mit Kalaschnikows und Granaten bewaffnet waren. Sie konnten 16 Gefangene aus Schiffscontainern befreien und fanden Unmengen an Geheimdienstunterlagen über Studenten.

"Sie galten in Libyen als intellektuelles Risiko und konnten jederzeit verhaftet, gefoltert oder auch hingerichtet werden", erklärt der neue Dekan, der in Italien und Großbritannien Medizin studierte. Am 7. April 1976 hatte es auf dem Campus Anti-Regierungs-Demonstrationen gegeben, auf die die Behörden mit Schießbefehl reagierten. Mindestens 13 Studenten starben. In Erinnerung ließ die Regierung genau ein Jahr darauf öffentliche Exekutionen in der Nähe der Medizinischen Fakultät durchführen.

Khrekshi und seine Studenten entdeckten bei ihrer Rückeroberung der Bildungsinstitution auch einen geheimen, unterirdischen Raum unter einem Lesesaal: mit Schlafzimmer, Jacuzzi und einem gynäkologischen Stuhl. Gleiche Einrichtungen wurden auch an anderen geheimen Orten in Tripolis entdeckt, die alle für Ex-Diktator Gaddafi vorbehalten waren. Was er dort tatsächlich gemacht hat, weiß man nicht. Für die Rebellen sind es Beweise, dass der "große Bruderführer" angeblich Frauen vergewaltigte und Abtreibungen durchführen ließ.

Ein neuer Geist an den Universitäten

Entferntes Plakat Gaddafis; Foto: dapd
Abrechnung mit der verhassten Obrigkeit: Nach dem Sturz Gaddafis wird das Lehrpersonal ausgetauscht, Veranstaltungen sollen künftig den Prinzipien von Demokratie, Pluralismus und Meinungsfreiheit verpflichtet sein.

​​Mit dem Spuk der Vergangenheit soll es nun vorbei sein. "Es gibt einen ganz neuen Geist an der Universität", versichert Khrekshi selbstsicher. Und den habe man sofort nach dem Fall des Regimes erkennen können. Freiwillig kamen die Studenten, um Gebäude und Lehrsäle zu putzen und zu streichen. Seminare und Diskussionsveranstaltungen wurden in der studienfreien Zeit organisiert, um formieren.

"Uns wurde so viel vorenthalten. Daher wollen wir nun alles wissen, was wir wegen Gaddafi verpasst haben", berichtet eine Studentin, die lieber ungenannt bleiben will. In den 1980er Jahren durfte man Fremdsprachen wie Englisch oder Französisch nicht lernen. Viele Lehrbücher waren aus ideologischen Gründen verboten.

Studenten konnten Prüfungen bestehen, weil sie sich besonders patriotisch und staatsverbunden zeigten oder einfach gute Beziehungen hatten. Als Lehrmethode wurde auf stures Memorieren von Fakten und Daten gesetzt. Damit soll es nun vorbei sei. "Eigenständiges Denken, Initiative und Nachfragen sind wichtige Eigenschaften, die wir anregen müssen", meint der neue Dekan Khrekshi.

Der unabhängigen Studentenvertretung ließ er Computer zurückgegeben, die die Revolutionären Komitees Gaddafis beschlagnahmt hatten. In Zukunft soll für alle Studenten kostenlose Transportverbindungen zum und vom Campus zur Verfügung gestellt werden.

Kurzer Prozess mit Gaddafi-Getreuen

Probleme gibt es noch beim Lehrpersonal. Nicht alle der 5.000 Professoren sind weiter beschäftigt worden. "Wer andere Kollegen und Studenten beim den Sicherheitsbehörden denunzierte, hat die Konsequenzen tragen", erklärt Khrekshi. Es sei ein schwieriger Prozess, die wirklichen Gaddafi-Getreuen von den einfachen Mitläufern auszusieben.

Gaddafi liest im Grünen Buch; Foto: AP
Kontrolle des Lehrpersonals und Glorifizierung des Revolutionsführers: Universitätsfächer wie Soziologie oder Politikwissenschaften seien nur auf das "Grüne Buch" konzentriert gewesen, berichtet Dr. Feisel Khrekshi.

​​An der Universität durfte nur Personal arbeiten, den das Regime als loyal einstufte. Jeder, ob er wollte oder nicht, musste eine tadellose Biografie und Einstellung beweisen, um eine Stelle zu erhalten. Wie in allen totalitären Staaten musste man sich auch in Libyen arrangieren, wollte oder konnte man nicht ins Exil gehen.

Rachegedanken kennt Khreshki angeblich nicht. "Natürlich könnte ich als Dekan einigen Professoren das Leben schwer machen, aber wir haben wichtigere Aufgaben, mit denen wir uns beschäftigen müssen." Kurzer Prozess wurde allerdings mit den Lehrern gemacht, die das "Grüne Buch" unterrichtet hatten.

Sie schickte man sofort nach Hause, jedoch bei weiterlaufenden vollen Bezügen. Was mit ihnen passieren wird, ist noch völlig unklar. Ihr Gaddafi-Lehrbuch, von dem es zigtausende Exemplare gab, wurde zum Teil von den Studenten auf dem Campus verbrannt. Bis Khrekshi ihnen riet, das Papier besser recyceln lassen. "Dann habt ihr auch was davon, anstatt sinnlos damit die Luft zu verpesten."

Alfred Hackensberger

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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de