Gespaltene Identität
Pakistan ist per Definition ein muslimisches Land. Es entstand 1947 durch die Teilung von Britisch-Indien. Muhammad Ali Jinnah, Pakistans Gründungsvater, hatte sich für einen eigenen Staat für südasiatische Muslime eingesetzt, der aber modern mit säkularer Regierung sein sollte. Seine Muslim-Liga hatte eine Zwei-Staaten-Theorie verfochten, der zufolge Hindus und Muslime nicht friedlich nebeneinander eine Nation bilden könnten. Weder Jinnah noch viele andere muslimische Führungspersönlichkeiten stellten sich im Unabhängigkeitskampf Pakistan als theokratischen Staat vor.
Der Kontrast zwischen der Forderung nach einem Staat auf religiöser Basis und dem Wunsch nach einer nicht-religiösen Regierung war von Beginn an offenkundig. Wissenschaftlern zufolge bildet dieser Widerspruch den Kern der gegenwärtigen Identitätskrise Pakistans und trägt zu den extremistischen Herausforderungen bei, denen sich das Land stellen muss.
"Gegensätze liegen im Wesen Pakistans. Deshalb sind wir nicht in der Lage, unsere eigentliche Identität zu finden", sagt Ijaz Khan, Vorsitzender der Fakultät für Internationale Beziehungen der Universität Peshawar. Ihm zufolge gibt es zwei Denkschulen in Pakistan: die eine will einen Staat entlang religiöser Linien; die andere vertritt einen säkularen Ansatz.
Beide Schulen beziehen sich aber auf den Islam. Um Pakistans Identität zu bestimmen, betont der "muslimische Nationalismus" der Säkularen dabei eher kulturelle Aspekte als den Glauben. Bangladeschs Loslösung von Pakistan war 1971 ein harter Schlag für diese Sichtweise, denn die Bangladeschis betonten statt der Einheit der südasiatischen Muslime ihre kulturellen Unterschiede.
Islamischer Sozialismus
Kurz nach der Teilung von Britisch-Indien 1947 wurden die Politiker, die sich für einen muslimischen Staat eingesetzt hatten, in Pakistan marginalisiert. Militär und Bürokratie prägten die Politikgestaltung, insbesondere nach dem Putsch 1958. "Militär und Bürokratie nutzen die Religion, um ihre Interessen durchzusetzen", merkt Professor Khan an. Zudem begannen einige muslimische Parteien, die ursprünglich die Teilung Indiens auf religiöser Basis abgelehnt hatten, Gesetzgebung nach islamischem Recht zu fordern. Militär und Bürokratie sahen diese Parteien als Verbündete an.
Alle Regierungen – ob durch Wahlen oder Putsch an die Macht gekommen – "spielten die religiöse Karte", sagt Professor Khan: "Zulfikar Ali Bhutto, der Gründer der PPP, der Pakistanischen Volkspartei, begründete den 'islamischen Sozialismus'." Bhutto erzielte bei den Wahlen von 1973 einen Sieg gegen ein Bündnis, das einige glaubensbasierte Parteien einschloss. Trotzdem setzte er die Islamisierung des Landes fort. Zum Beispiel verbot er den Verkauf von Alkohol und erklärte den Freitag zum Feiertag.
In den 1970ern nahm die religiös geprägte Politik dramatisch zu. General Zia-ul-Haq nutzte islamische Ideologie, um Bhuttos gewählte Regierung zu stürzen und danach seine Diktatur zu verstetigen. Das Militärregime bemühte sich zwar um eine pan-islamische Vision, aber es bezog sich auf wahabitische Auslegungen des Glaubens. Dieser Ansatz störte die Schiiten, wes¬halb seither immer wieder Gewalt aufflammt.
1979 marschierte die UdSSR in Afghanistan ein, um die dortige Regierung im Kampf gegen religiös motivierte Aufstände zu unterstützen. Die USA bezeichneten die sowjetische Invasion als Ausdruck geopolitischer Expansionsbestrebungen. General Zia sahen sie als wichtigen Partner an, um diese einzudämmen. Pakistans Geheimdienst Inter-Services Intelligence (ISI) kooperierte mit den USA bei der Unterstützung anti-sowjetischer Mudschaheddin-Kämpfer.
Radikale sunnitische Gruppen wie Deobandi, Barelvi und Ahle Hadith führten in Afghanistan einen Petrodollar-finanzierten Krieg gegen die Sowjetunion. "Die Amerikaner nannten Teile der heutigen zen¬tralasiatischen Republiken den ,weichen Unterleib’ der Sowjetunion, weil sie vor allem von Muslime bewohnt werden", sagt Professor Khan. Die Mudschaheddin wurden sowohl von den USA als auch von Saudi-Arabien unterstützt. Beide wollten den sowjetischen Einfluss begrenzen, zugleich aber auch ein Überschwappen der iranischen Revolution in die Nachbarländer und den Mittleren Osten verhindern.
Afghanischer Dschihad
"Pakistan wurde zum ideologischen Schlachtfeld für Iran und Saudi-Arabien", schreibt Umbreen Javed, Professorin für Politikwissenschaft an der Punjab-¬Universität. Ihr zufolge sind die von den Saudis geförderten Religionsschulen ("Madrasas") der Deobandis dank der Unterstützung pakistanischer Behörden immer einflussreicher geworden.
Tausende bewaffneter Anhänger religiöser Parteien und extremistischer Gruppen in Pakistan nahmen in den 1980ern am afghanischen "Dschihad" teil, dem "Heiligen Krieg". Viele kehrten nach dem Abzug der gedemütigten Roten Armee heim. Hunderte ausgebildete Kämpfer schlossen sich radikalen Organisationen an. Einige wollten ihren Kampf im von Indien besetzten Teil Kaschmirs fortführen. "Der Dschihad und die folgende Militarisierung des Islams fügten der Zivilgesellschaft und den staatlichen Institutionen in Pakistan dauerhaften Schaden zu", urteilt Javed.
Eine weitere historische Wendung war, dass der ISI in den 1990ern mit den sunnitisch-fundamentalistischen Taliban kooperierte. Damals war Benazi Bhutto, die Tochter von Zulfikar, Premierministerin. Der ISI wollte Afghanistan stabilisieren und die Kontrolle über die Mudschaheddin gewinnen. Diese führten bereits seit Abzug der Sowjets einen blutigen Bürgerkrieg gegeneinander. Erneut wurde der islamische Glaube für politische Zwecke genutzt. Die bittere Ironie war, dass Ende 2007 islamistische Extremisten Benazir im Wahlkampf töteten.
Wurzeln des Extremismus
Die Risse und Spannungen in der pakistanischen Gesellschaft wuchsen, als die USA und ihre Verbündeten in Afghanistan einmarschierten. Unter UN-Schutz wollten sie zwei Monate nach den Terroranschlägen von New York und Washington im September 2011 Al-Qaida und das Taliban-Regime auslöschen. Seitdem eskaliert die Gewalt und schwappt nach Pakistan hinüber – zuerst in Stammesgebiete entlang der Grenze und später auch in die großen Städte.
Viele Menschen haben das Gefühl, sie müssten wegen der amerikanischen Interessen in der Region leiden. "Die USA sind in Afghanistan, weil sie die natürlichen Ressourcen der zentralasiatischen Republiken ausbeuten und Waffen verkaufen wollen", sagt Sirajul Haq, Vorsitzender der Jamaat-e-Islami, einer extremen islamischen Partei. Führende Politiker der Rechten wie er bestreiten, dass der pakistanische Ex¬tremismus in der Religion verwurzelt sei. Sie sagen, die Ursache der extremistischen Gewalt sei soziale und politische Ungerechtigkeit – und der Glaube biete einen Ausweg aus diesen Problemen.
Haq behauptet: "Das Thema Extremismus ist an wirtschaftliche und politische Formen des Terrorismus gekoppelt, denen das pakistanische Volk ausgesetzt ist." Das Militär diene nicht nur den US-Interessen, sondern schmiede auch Allianzen mit feudalen Grundbesitzern Pakistans und versage dem Volk die Bürgerrechte.
Solche Überlegungen finden Nachhall bei vielen Pakistanern. Der säkular eingestellte Professor Khan bestätigt, dass das Land unter zügelloser Korruption und sozioökonomischer Misere leide. Er betont aber, dass die Manipulation religiöser Gefühle für strategische Interessen des Staats und internationaler Akteure mehr Schaden angerichet habe als derartige Missstände. Khan weist darauf hin, dass das Militär seit langem islamistische Ideologien pflegt.
Auf Dauer angelegt
Religiöser Extremismus ist in Pakistan zur brutalen Bedrohung geworden. Dieses Monster hat bereits Tausende Unschuldige getötet – und ein Ende ist nicht in Sicht.
Mian Iftikhar Hussain, Chef der säkularen Awami-National-Partei, die derzeit die explosive Provinz Khyber Pakhtunkhwa (früher North-West Frontier Province genannt) regiert, ist pessimistisch: "In Pakistan verurteilen religiöse Parteien Terroranschläge nicht so, wie sie es sollten. Damit tragen sie letztlich zum Extremismus bei." Sein einziger Sohn wurde von Militanten getötet, um ihn für seine Teilhabe in der anti-extremistischen Provinzregierung zu bestrafen.
Hussains Ansicht zufolge nehmen die Regierungen von Afghanistan, Pakistan und den USA den Kampf gegen den Extremismus nicht ernst: "Sie zielen lediglich auf die Militanten, die ihrer Meinung nach ,schlechte' Taliban sind. Dabei erhalten sie Beziehungen zu den ,guten' Taliban aufrecht." Seiner Meinung nach richtet sich dieser selektive Ansatz nicht gegen "die Wurzeln des Extremismus". Zudem schaffe er Misstrauen in der Bevölkerung ebenso wie unter den Verbündeten. Er warnt: "Extremismus wird so lange weiterbestehen, bis ein umfassendes Konzept angewendet wird."
Professor Khan spricht ebenfalls von Doppelmoral. Washington habe sich so lange nicht um das sunnitisch-fundamentalistische Regime der Taliban in Afghanistan geschert, bis Al-Qaida das Land als Basis für die Anschläge in New York und Washington nutzte.
Der Wissenschaftler erklärt die Evolution der Extremisten: "Zuerst waren sie lediglich Werkzeuge, aber dann wurden sie Partner. Nun wollen sie die Kontrolle." Seine traurige Einschätzung ist: "Extremismus wird hier noch lange bestehen, weil er gut genährt wurde und starke Wurzeln hat." Man könne ihn mit politischen Mitteln eindämmen, sagt Khan, aber das werde nicht getan. Ihm zufolge muss die repräsentative Demokratie gestärkt und zugleich hart gegen die Extremisten durchgegriffen werden. Stattdessen, sagt Khan, "wird eine Politik der Eindämmung und nicht der Auslöschung betrieben".
Mohammad Ali Khan
© Entwicklung und Zusammenarbeit 2011
Mohammad Ali Khan ist Journalist aus Peshawar und Absolvent des Internationalen Instituts für Journalismus der GIZ.
Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de