Widerstand aus der ''Wiege der Revolution''
In Flipflops bahnt sich Mohammed Scharif einen Weg durch Abwasserpfützen und aufgeplatzte Müllsäcke zur Mädchenschule im Zentrum von Mahalla. Die Luft ist von Fäkaliengestank erfüllt. Die Warteschlange vor dem Gebäude, das heute als Wahllokal dient, mehrere Hundert Meter lang.
Seit zwei Jahren hat der Mechaniker keine Wahl ausgelassen, jedes Mal stimmte er bislang für die Islamisten. Heute nicht. "Ägypten gehört nicht einer Partei, es gehört uns allen. Die Verfassung dient nur den Muslimbrüdern", schimpft der 33-Jährige und erzählt von seiner Werkstatt, die eben erst überfallen wurde.
Von Gaspreisen, die ständig steigen. Von Rechnungen, die sich stapeln: "Wir dachten, die Islamisten würden uns Arme verstehen, sie haben doch auch gelitten unter dem alten Regime. Stattdessen geht es ihnen nur um Macht."
56,5 Prozent sagen "Ja"
In Mahalla, eine knapp 500.000 Einwohner zählende Arbeiterstadt im dichtbevölkerten Nildelta, denken viele so wie Scharif. Hochrechnungen zufolge sollen die Provinz Gharbia, in der Mahalla liegt, rund 52 Prozent gegen den stark religiös ausgerichteten Verfassungsentwurf gestimmt haben. Damit stemmt sich Gharbia gegen den landesweiten Trend: Inoffiziellen Zahlen zufolge soll in den zehn Provinzen, die bislang abgestimmt haben, die Verfassung mit einer knappen Mehrheit von 56,5 Prozent angenommen worden sein.
"Wir sind die Bevormundung leid", sagt der Physikstudent Ayman Abdel Monim aus Mahalla. "Der Prediger in meiner Moschee behauptet, wer 'Nein' stimmt, komme in die Hölle. Was hat die Verfassung mit Gott zu tun? Sind wir etwa nicht alle Muslime?" Von Präsident Mohammed Mursi ist Abdel Monim schwer enttäuscht: "Er ist nicht mehr als eine Kopie von Husni Mubarak. Er bemüht sogar dieselben Verschwörungstheorien. Für so etwas haben wir während der Revolution nicht unser Leben riskiert."
Rebellion gegen die neuen Regenten
Der Zorn der Bewohner Mahallas sollte der Muslimbruderschaft zu denken geben. Die Stadt, so sagt man in Ägypten, sei ihrer Zeit stets voraus. Hier begehrten bereits im Jahr 2006 erstmals Tausende gegen das Regime auf. Als die Polizei am 6. April 2008 gewaltsam einen Arbeiterstreik für gerechtere Löhne unterdrückte, verbrannten wütende Bürger öffentlich Bilder Husni Mubaraks und stürmten das Büro seiner Partei – ein bis dahin einmaliger Vorfall in Ägypten. Die Bewegung 6. April, deren Internetaktivisten eine führende Rolle bei der Revolution im vergangenen Jahr spielten, war geboren.
Nun ist es die Zentrale der Muslimbruderschaftspartei Freiheit und Gerechtigkeit, die vielen als Symbol der Unterdrückung gilt. Am 27. November setzten Unbekannte das Gebäude der Islamisten in Brand. Eine eingeschlagene Fensterscheibe und rußgeschwärzte Wände zeugen von der Attacke.
Zehn Tage darauf riefen Tausende Gegner Mursis und der Muslimbruderschaft die "unabhängige Republik von Groß-Mahalla" aus. Aktivisten blockierten Zuggleise, errichteten Straßenblockaden, besetzten das Gebäude des Stadtrats. "Wir sagen uns los vom Muslimbruderstaat", skandierten die Anführer des Aufstandes.
Die Unabhängigkeit sei nur ein Jux, meint ein Gewerkschaftsführer der örtlichen "Weberei Misr", der größten Textilfabrik des Landes: "Die Wut auf die Bruderschaft aber ist sehr real. Wir hatten erwartet, dass die Islamisten sich für gerechtere Löhne einsetzen würden. Stattdessen haben sie nur versucht, die Gewerkschaften mit ihren eigenen Leuten zu besetzen."
"Mursi braucht mehr Zeit"
Ein paar Straßenecken weiter steht der Verkäufer Mohammed Sabri. Den großen Aufruhr kann er nicht begreifen. "Ohne Verfassung kann kein Präsident der Welt ein Land regieren", sagt der spindeldürre junge Mann mit dem langen Bart. Seinen fahrbaren Sandwichstand hat Sabri mit Plakaten zugepflastert. "Ja zur Verfassung, ja zum islamischen Gesetz" ist darauf zu lesen.
Dass die Verfassung abgelehnt werden könnte, hält er für ausgeschlossen. "Die Liberalen haben Angst vor freien Wahlen", sagt er. "Sie wissen, dass sie keinen Rückhalt auf der Straße haben." Eine ältere Frau pflichtet ihm bei: "Wir müssen Mursi mehr Zeit geben. Die Opposition blockiert nur. Eigene Ideen hat sie nicht."
Die Muslimbruderschaft veröffentlichte vor kurzem Zahlen, die ein knappes "Ja" von 56,5 Prozent zur Verfassung nahelegen. Abgesehen von Gharbia habe sich bislang nur die Hauptstadt Kairo gegen die religiös geprägte Verfassung ausgesprochen. Die Wahlbeteiligung soll allerdings bei nur 33 Prozent gelegen haben. Die restlichen Provinzen werden in einer Woche an die Urne gebeten.
Neuwahl gefordert
Linke und liberale Parteien beklagten Wahlfälschung und behaupteten, die Mehrheit habe mit "Nein" gestimmt. Sie fordern nun Neuwahlen. Bürgerrechtsgruppen monierten mehr als 4.000 Verstöße gegen das Wahlrecht. Vielerorts sei das Referendum nicht im ausreichenden Maße von Richtern überwacht worden.
Zudem hätten sich einige Leute fälschlicherweise selbst als Richter ausgegeben, die Auszählung der Stimmen sei nicht immer überwacht worden, und einige christliche Frauen seien an der Teilnahme gehindert worden. Aus mehreren Regionen wurde über die Einschüchterung von Aktivisten durch radikalislamische Salafisten berichtet. Insgesamt verlief der Wahltag aber weitgehend friedlich.
Auf die Glaubwürdigkeit der Abstimmung angesprochen, lacht ein Polizist in Mahalla nur. "Wir überwachen nur, was außerhalb der Wahllokale geschieht", sagt der Sicherheitsbeamte. "Drinnen haben die Muslimbrüder die Kontrolle."
Markus Symank
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de