Fehlende Kooperationsbereitschaft der säkularen Opposition
Ägypten durchläuft derzeit sehr unruhige Tage. Es scheint, als würden die Weichen für die Zukunft gestellt. Wie sehen Sie diese Phase?
Björn Bentlage: Es ist auf jeden Fall eine sehr kritische und wirre Übergangsphase. Dabei ergeben uns selbstverständlich erscheinende Begriffe wie Rechtmäßigkeit, Rechtsstaat oder Gerichtsurteile bereits seit Längerem keinen Sinn mehr.
So wurde beispielsweise nach Präsident Mursis Verfassungserklärung Ende November gesagt, er habe sich damit selbst zum Diktator erhoben und über den Rechtsstaat gestellt. Doch problematisch war die Lage bereits seit längerer Zeit - spätestens seit der zusätzlichen Verfassungserklärung des Militärrates nach der Auflösung des Parlamentes. Seitdem gibt es keinen demokratisch gewählten Gesetzgeber mehr. Die Rechtmäßigkeit von vielen Gerichtsentscheidungen in einer Zeit, in der es nur eine Übergangsverfassung gibt, gegen die aber auch schon mehrfach verstoßen wurde, ist sehr fragwürdig.
Wo steuert Mursi mit seiner Politik der letzten Wochen und Monate hin?
Bentlage: Man kann das nur vermuten. Einleuchtend scheint die Erklärung, er wolle die Verfassungsgebende Versammlung vor einer Auflösung durch das Verfassungsgericht schützen. Das entsprechende Urteil war für den 2. Dezember erwartet worden. Die Richter hätten es auch fällen können, wenn sie gewollt hätten - und zwar trotz der Demonstration vor dem Justizgebäude. Damit wäre der ganze Übergangsprozess fast wieder bei Null angekommen. Die einzige noch amtierende gewählte Institution wäre der Präsident gewesen.
Meinem Eindruck nach ist die Erklärung Mursis ein Versuch, die Übergangszeit abzuschließen - wenn auch mit einer Hauruck-Methode und auf politisch instinktlose Weise. Vielleicht aus Frustration, vielleicht, weil er durch den Machtkampf mit den alten Militärs oder mit Teilen der Justiz in Bedrängnis geraten ist.
Die neue Verfassungsvorlage wird nun zur Volksabstimmung vorgelegt. Wie ist Ihr Eindruck von dem Entwurf?
Bentlage: Sie hat zwar ein paar islamische Einschläge, ist insgesamt aber ein sehr akzeptables Dokument, auf dessen Grundlage man durchaus eine säkulare Demokratie regieren kann. Sie enthält keine groben Verstöße. Es gibt einige Passagen, die in eine sozialkonservative Richtung weisen. Aber wenn man einen islamistischen Staat, vielleicht sogar einen Gottesstaat oder auch nur eine politische Diktatur errichten will, müsste man einen ganz anderen Verfassungstext schreiben.
Insgesamt handelt es sich um ein größtenteils ausgewogenes Dokument. Das gilt etwa im Hinblick auf Fragen wie die Gewaltenteilung, den Schutz der Persönlichkeitsrechte, den Aufbau der juristischen Instanzen und die Rechte des Einzelnen gegenüber dem Staat. Das kann man durchaus als großen Erfolg für die Demokratie und den Rechtsstaat in Ägypten bezeichnen.
Dennoch monieren viele den angeblich allzu konservativen Charakter der Verfassung.
Bentlage: Es gibt mehrere Passagen, an denen sich in dieser Verfassung der Staat eine leicht patriarchalische Rolle zuschreibt - vor allem in der Familien- und Sozialpolitik. Das zielt auf die Vermittlung von Werten und die Aufrechterhaltung öffentlicher Moral. Das muss man nicht für sonderlich erstrebenswert halten. Aber man muss es in Abgrenzung zu den Freiheitsrechten sehen, die an anderer Stelle eingeräumt werden. Der Schutz des Individuums vor dem Staat entspricht durchaus den Prinzipien der internationalen Menschenrechte. Vor allem würde diese Verfassung aber den politischen Prozess wieder beleben, der im Moment zum Erliegen gekommen ist.
Wie beurteilen Sie denn die Rolle der säkularen Opposition?
Bentlage: Aus dem oppositionellen, säkularen oder liberalen Lager kommt keine Kooperation. Es hat die Verfassungsgebende Versammlung von Anfang an boykottiert, wie es auch ein gängiges Mittel in der politischen Auseinandersetzung gegenüber dem Autokraten Mubarak war.
Darum muss man gegenüber den liberalen und säkularen Kräften durchaus kritisch einwenden, dass sie bislang fast jede Möglichkeit der konstruktiven Mitarbeit von vornherein oder nach sehr kurzer Zeit ausgeschlagen haben. Das begründeten sie meist mit weit reichenden Befürchtungen - leider aber nicht durch Kritik an konkreten Punkten der Verfassung.
Muslimbrüder und Salafisten sind die beiden größten Gruppen der gewählten Volksvertreter. Was sagt das über die ägyptische Gesellschaft aus?
Bentlage: Die ägyptische Gesellschaft ist sehr vielfältig. Es gibt ein großes Gefälle zwischen den verschiedenen Teilen der Bevölkerung. In Kairo und anderen Metropolen gibt es Stadteile, in denen die Menschen im Rahmen einer globalisierten Kultur aufwachsen. Sie sehen die gleichen Filme wie Jugendliche in Deutschland, sie hören die gleiche Musik hören, tragen die gleichen Frisuren. Die Mehrheit der Bevölkerung ist allerdings sozial konservativ und stark religiös. Sie nimmt nicht in der gleichen Weise an neueren Medien oder den Diskursen der politischen Öffentlichkeit teil. Es gibt erhebliche Distanz zwischen den beiden Bevölkerungsteilen.
Wenn man sich tatsächlich in Richtung Demokratie bewegen möchte, muss man akzeptieren, dass islamistische Bewegungen und islamistische Parteien ein hohes Maß an Legitimität haben und insofern auch durchaus in einer Mehrheit an der politischen Willensbildung beteiligt sein müssen. Und da sehe ich tatsächlich auf Seiten der liberalen und säkularen Kräfte ein grundlegendes Problem: nämlich eine derart ausgeprägte Angst vor oder Abneigung gegenüber Islamisten, dass es durchaus zu weiteren Konflikten kommen könnte.
Björn Bentlage forscht und lehrt am Seminar für Arabistik und Islamwissenschaft der Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg. Schwerpunkt seiner Arbeit sind Recht und Gesellschaft im heutigen Ägypten.
Interview: Kersten Knipp
© Deutsche Welle 2012
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de