Arabische Kritik an der Doppelmoral
Zwischen Deutschland und der arabischen Welt gab es schon immer einen seltsamen, unausgesprochenen Pakt. Die Araber empörten sich weniger über die deutsche Unterstützung für Israel als über jene der USA und Großbritanniens. Das lag auch an der verbreiteten Ansicht, dass Deutschland wegen seiner historischen Schuld gar nicht anders könne.
Arabische Regierungen und ihre Öffentlichkeiten waren Deutschland eher freundlich gesinnt. Deutschland konnte sich darauf berufen, dass es nie arabische Länder kolonisiert hatte. Deutschlands dunkle Vergangenheit ging an der arabischen Welt vorbei, mit Ausnahme der Invasion in Nordafrika im Zweiten Weltkrieg. Und wenn man mit Westdeutschland unzufrieden war, gab es immer noch die DDR. Man konnte das Deutschland seiner Wahl mögen.
Auch im wiedervereinigten Deutschland blieb das so. Man nahm wohlwollend auf, dass Berlin sich 2003 einer Beteiligung am Irakkrieg widersetzte. Der Anblick syrischer Geflüchteter, die 2015 an deutschen Bahnhöfen willkommen geheißen wurden, erwärmte die arabische Öffentlichkeit noch mehr für Deutschland, die den Kontrast zur Misshandlung von Syrern durch ihre eigenen Regierungen sah.
Mercedes, Goethe-Institut und Rucksacktouristen
Man sah Deutschland durch seine Mercedes-Autos, die die Straßen von Kuwait verstopfen, durch das Goethe-Institut, das zwischen den Bäumen von Alexandria hervorragt, oder durch freundliche Rucksacktouristen, die im Libanongebirge wandern gehen. Der Aufstieg der extremen Rechten in Deutschland wurde im arabischen Ausland kaum wahrgenommen.
Dann geschahen die entsetzlichen Massaker und Entführungen der Hamas am 7. Oktober, und Israel begann als Reaktion darauf, den Gazastreifen mit Flächenbombardements zu überziehen, ließ die Bewohner hungern, tötete Tausende von Zivilisten und vertrieb fast zwei Millionen Menschen aus ihren Häusern. Es wurde schnell klar, dass dieser Krieg weit über Selbstverteidigung hinausgeht. Aber Deutschland verlor jede Nuance mit seiner einseitigen Unterstützung Israels, was im krassen Widerspruch zur Realität und zur grundlegenden menschlichen Empathie steht.
Wenn das deutsche Außenministerium nicht gerade die »humanitären« Maßnahmen Israels lobt, bezeichnet es diesen katastrophalen Krieg mit Tausenden getöteten Kindern als »die Lage im Nahen Osten«. Als ob es sich um nichts Weiteres als um eine Verspätung der Deutschen Bahn handelt.
Wo bleiben die Grautöne?
In der deutschen Debatte über den Krieg im Nahen Osten fehlt es an Differenzierung und Zwischentönen. So verrennt man sich in einen neuen Sonderweg. Das weckt schmerzhafte Erinnerungen.
Die Morde und Entführungen, die die Hamas am 7. Oktober verübt hat, sind widerwärtig und nicht zu rechtfertigen. Das Mitgefühl mit den israelischen Opfern sollte nicht an Bedingungen geknüpft oder aufgrund der Geschichte des palästinensischen Leidens abgetan werden.
Gleichzeitig müssen wir klarstellen, dass ein Gespräch über den Kontext nicht gleichbedeutend mit einer Rechtfertigung ist. Die Hamas ist in erster Linie ein Produkt der Besatzung, ihre Ideologie wird durch Vertreibung, Enteignung und Gewalt genährt, die die Palästinenser seit 1948 täglich erleben. Wenn man die Hamas vernichtet, wird etwas anderes an ihre Stelle treten, solange es keinen gerechten Frieden gibt.
Die Hamas rekrutiert viele Mitglieder unter Waisenkindern, die mit ansehen mussten, wie ihre Eltern von Israel getötet wurden. Die palästinensischen Terroristen der Organisation »Schwarzer September«, die 1972 das Massaker an israelischen Sportlern bei den Olympischen Spielen in München verübten, waren Waisen früherer israelischer Kriege. Jetzt schafft Israel eine neue Generation von Waisenkindern.
Das Szenario einer zweiten »Nakba« ist real
Die Palästinenser sterben zu Tausenden, und das Szenario der Zerstörung des gesamten Gazastreifens mit einer erzwungenen Massenvertreibung, einer zweiten »Nakba«, ist sehr real. Namhafte Experten sind alarmiert, manche sprechen von einem Völkermord. Währenddessen kümmert sich die deutsche Politik um diskursive Triggerpunkte, zensiert »Free Palestine« und lässt die Palästinenser bis heute den Preis für Europas blutige Vergangenheit zahlen, indem sie Israel mit Verweis auf die eigene historische Schuld alles durchgehen lässt.
In diesem Monat hat Deutschland die Mittel für ein Programm zur Bekämpfung des Menschenhandels beim Zentrum für Rechtshilfe für ägyptische Frauen gestrichen, weil die Leiterin Azza Soliman Israels Krieg im Gazastreifen ablehnt. Soliman war 2020 mit dem Deutsch-Französischen Preis für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit ausgezeichnet worden.
Hossam Bahgat, Leiter der ägyptischen Menschenrechtsorganisation EIPR, will die Zusammenarbeit bei Projekten mit der deutschen Regierung beenden, weil »Berlins Position bezüglich des Krieges große Zweifel an dem Raum gemeinsamer Werte zwischen Deutschland und Menschenrechtsaktivisten, Feministinnen und unabhängigen Medien in Ägypten aufkommen lässt«.
In der ganzen arabischen Welt verliert Deutschland gerade Verbündete, die sich bisher als Teil einer Wertegemeinschaft verstanden, die den Menschenrechten verpflichtet ist.
Es war schon lange klar, dass die liberale Ordnung und das Völkerrecht oft mit zweierlei Maß messen. In den ersten Tagen von Putins Einmarsch in die Ukraine war es ein Leichtes, eine Analogie zum besetzten Palästina herzustellen. Aber man erntete darauf nur schweigende Blicke, ein Schweigen, das Bände sprach.
Ein Fall von Doppelstandards
Die Doppelmoral ist unerträglich: In einem Fall befürwortet man die Entsendung von Waffen für den Widerstand gegen eine illegale Besatzung, während man im anderen Fall eine Besatzungsmacht, die fortlaufend illegal palästinensisches Land an sich reißt, militärisch, wirtschaftlich und moralisch unterstützt. Bestenfalls erinnert man Israel ab und zu, aber ohne jede Konsequenz, an die Einhaltung des Völkerrechts. Wenn es um die israelische Besatzung geht, gilt in Deutschland oft eine alternative Realität, die einem den Verstand raubt.
Jetzt ist angesichts der westlichen Unterstützung für offenkundige israelische Kriegsverbrechen im Gazastreifen der letzte Anschein von Universalität zerbrochen. Die Autokraten haben sich Notizen gemacht und sind bereit, die aktuellen Ereignisse künftig als Vorwand zu nutzen.
Die westliche Reaktion auf den israelischen Krieg im Gazastreifen ist ein unverdientes Geschenk für den russischen Machthaber Wladimir Putin, auch im Globalen Süden wird so bald niemand mehr hinhören, wenn westliche Politiker auf das Völkerrecht pochen.
Ich hatte den Eindruck, dass der Arabische Frühling 2011 eine willkommene Abwechslung für das deutsche politische Establishment war. Städte wie Tunis und Kairo strahlten Hoffnung aus und bereiteten Berlin weniger Komplikationen als Ramallah und Gaza-Stadt. Aber hier ist ein Punkt, den viele Regierungsvertreter übersehen: Der Konflikt mit Israel förderte den Aufstieg des arabischen Autoritarismus und die wachsenden Sicherheitsapparate der Region.
Er trug in den späten 1940er- und 1950er-Jahren zur Zerstörung der zerbrechlichen demokratischen Experimente in Ägypten, Syrien oder dem Irak bei, und brachte die herrschenden Militärklassen hervor, die ihre Macht unter dem Vorwand der Verteidigung der Araber gegen die israelische Aggression ausbauten. Die ägyptische Offiziersrepublik entstand 1952 als indirekte Folge des arabisch-israelischen Krieges von 1948.
Umgekehrt waren die Protestbewegungen des Arabischen Frühlings 2011 auch inspiriert von palästinensischen Volksaufständen. Die aktuellen propalästinensischen Proteste in den arabischen Ländern vermischen sich manchmal auch mit anderen Forderungen, wie einem Ende der Korruption der eigenen Regime – weshalb die arabischen Regimes solche Proteste nicht gern sehen.
In gewissem Sinne ist die palästinensische Freiheit ein Gegenmittel gegen arabische Unfreiheit. Die palästinensische Frage ist für die arabische Öffentlichkeit zentral, und sie wird immer wieder die Illusionen zerstören, dass man sie ignorieren könnte.
Mehr Erinnerungskultur, nicht weniger
Wer sich mit deutschen Politikern zusammensetzt, kann produktive Gespräche über jedes beliebige arabische Land führen, von Menschenrechten bis zur Hochschulbildung. Wenn es jedoch um Israel und Palästina geht, sind die moralischen Sensoren plötzlich blockiert. Das spiegelt eine Verhärtung der Grenzen der Erinnerungskultur wider, die in ihrer Fixierung auf Israel, nicht unbedingt auf die Sicherheit der Juden, statisch geworden ist.
Es ist lobenswert, dass Deutschland sich mit seiner dunklen Vergangenheit auseinandersetzt. Die Schrecken und der Wahnsinn, die von Nazideutschland verübt wurden, müssen in Erinnerung bleiben. Der Welt würde mehr Erinnerungskultur guttun, nicht weniger davon.
Es gibt jedoch wichtige Kritik an der Entwicklung der Erinnerungskultur in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus ist zu einer Art Heiligsprechung Israels geworden, die »immun gegen historische und evidenzbasierte Argumente und blind für die Erfahrungen der Palästinenser unter der Besatzung« ist, wie es der israelische Historiker Alon Confino formuliert. Diese Entwicklung hat es ermöglicht, dass der Kampf gegen Antisemitismus teilweise vom rechten Flügel instrumentalisiert wurde.
Es ist höchst beunruhigend, wenn deutsche Politiker ein Interview des britischen Journalisten Piers Morgan mit dem britischen Rechtsaktivisten und Journalisten Douglas Murray teilen, in dem dieser behauptet, die Hamas sei schlimmer als die Nazis. Der Trend zur Relativierung der Nazis gegenüber der Hamas erfordert ein Innehalten und die Frage, wie der Diskurs an diesen traurigen Punkt gelangt ist.
Deutschland als moralischer Schiedsrichter
Die Redaktion des linken jüdisch-amerikanischen Magazins »Jewish Currents«: »Die Deutschen kontrollieren streng die Form des Jüdischseins und des Palästinensischseins innerhalb ihrer Grenzen... Deutschlands erdrückende Umarmung der jüdischen Gemeinschaft innerhalb seiner Grenzen, mit oder ohne Beteiligung von Juden, sichert das deutsche Selbstbild als moralischer Schiedsrichter, während die Schuld des Landes auf Araber und Muslime abgewälzt wird.«
Es ist, als ob Juden und Araber zu Helden und Bösewichten gemacht werden, zu Karikaturen im deutschen »Gedächtnistheater« – ein Begriff, den der deutsch-jüdische Soziologe Y. Michal Bodemann in seiner Kritik der deutschen Erinnerungskultur geprägt hat. Das untergräbt die jüdisch-arabische Solidarität – etwa, wenn die Polizei in Berlin jüdische Demonstranten verhaftet, weil sie gegen den Krieg im Gazastreifen protestieren. Der Raum für solche jüdischen Stimmen ist sehr eng.
Die Aufforderung des Bundespräsidenten an Araber und Muslime, sich offiziell von Antisemitismus zu distanzieren, setzt voraus, dass Antisemitismus bei Arabern und Muslimen eine Art Standardeinstellung ist. Ungeachtet der Tatsache, dass 84 Prozent der antisemitischen Angriffe im vergangenen Jahr von der deutschen Rechten verübt wurden.
Doch das globale Narrativ verändert sich – und lässt Deutschland ins Hintertreffen geraten. Kürzlich weigerten sich belgische Transportarbeiter, für Israel bestimmte Waffen zu verfrachten, mit denen höchstwahrscheinlich palästinensische Zivilisten getötet würden. Glücklicherweise ziehen einige Parteien die richtigen Lehren aus der Geschichte. Die Blockade von Häfen ist nur eine von vielen Aktionen, die sich gegen die Komplizenschaft des Westens in diesem Krieg richten.
Protest gegen Israels Krieg
Aktivisten, Studenten, Gewerkschaften und ganz normale Bürger – Juden, Araber, Muslime, Christen, Atheisten und im Grunde jeder, dem das Überleben der Menschheit am Herzen liegt – mobilisieren für Protestaktivitäten, um Israels Kriegsmaschinerie zu bremsen. Werden sie Erfolg haben? Wenn ich eine langfristige Sichtweise einnehmen sollte, dann würde ich es mit den Worten des unitarischen Pfarrers Theodore Parker aus dem 19. Jahrhundert tun: »Der moralische Bogen des Universums ist lang, aber er neigt sich zur Gerechtigkeit.«
»Shar« ist das arabische Wort für das Böse im islamischen Glauben, aber eigentlich bedeutet es »unzureichend, unvollständig«. Der vollen Verantwortung eines Menschen nicht gerecht zu werden, bedeutet, weniger als vollständig zu sein. Mitgefühl und Barmherzigkeit sind solche verantwortungsvollen Eigenschaften, deren Fehlen das Versagen der Menschen widerspiegeln, als Menschen zu handeln. Die Formel sollte einfach sein: Palästinensisches Leben ist genauso heilig wie jüdisches Leben, jüdisches Leben ist genauso heilig wie palästinensisches Leben. Daran zu glauben, es auszusprechen und danach zu handeln, sollte nicht allzu schwer sein.
Ali Amro
© Qantara.de 2024
Der Beitrag ist zuerst am 1. Januar 2024 bei Spiegel Online erschienen.
Amro Ali ist ein ägyptisch-australischer Soziologe und Autor. Er hat an der University of Sydney seine Doktorarbeit geschrieben. Seine Spezialgebiete sind unter anderem die arabische Öffentlichkeit, mediterrane und globale Studien, soziologische Philosophie und politische Philosophie. 2021 ist sein viertes Buch »The Arab State« erschienen. Er lebt in Alexandria, Casablanca und Berlin.