Ein Präsident ohne Macht
Der Kandidat der Muslimbrüder, Mohamed Mursi, hat die historischen Präsidentschaftswahlen in Ägypten mit 51,7 Prozent der Stimmen gewonnen und wird damit der erste zivile Präsident des Landes.
Doch der herrschende Militärrat hat alles unternommen, um den Willen des Volkes zu unterdrücken und seine Interessen durchzusetzen: Nachdem er über das Verfassungsgericht bereits das demokratisch gewählte Parlament aufgelöst hat, stutzte dieser – in Anbetracht des sich abzeichnenden Wahlsieges der Muslimbrüder – auch die Befugnisse des Präsidentenamtes derart zurecht, dass es die Bezeichnung Präsident kaum noch verdient.
Auch die Verfassung würde nach dem bekannt gegebenen Verfassungsdekret letztlich vom Militärrat gestaltet werden. Doch die Muslimbrüder haben erstmals wichtige Allianzen mit nicht-islamistischen Oppositionsgruppen geschlossen und öffentlich erklärt, den Tahrirplatz in Kairo so lange besetzen zu wollen, bis das Verfassungsdekret in der jetzigen Form zurückgenommen wird.
Neue Konfrontationen auf der Straße sind mit Mursis Wahlsieg also vorprogrammiert. Doch sollte dieser es schaffen, die nach der Bekanntgabe seines Wahlsieges auf den Straßen ausgebrochene Euphorie zu kanalisieren, könnte sein Amt am Ende erheblich mehr Einfluss erhalten, als es dem Obersten Militärrat im Moment recht sein dürfte.
Der selbsternannte Retter Ägyptens
Letzterer unterstützte im Wahlkampf die Angstkampagne seines Rivalen, Mubaraks letztem Premierminister und Ex-General Ahmed Shafik. Ein Wahlsieg der Muslimbrüder würde – Shafiks Kampagne zufolge – einen islamischen Gottesstaat nach sich ziehen und nur ein erfahrener, mit brutaler Hand regierender Politiker wie er selbst, könne die Wirtschaft vor dem Kollaps und das Land vor dem Versinken in Kriminalität retten. Dass sowohl die gestiegene Kriminalität als auch die schlechte Wirtschaftslage vor allem auf das Regime zurückzuführen sind, verschwieg er.
Ob es – trotz Niederlage – einen massiven Wahlbetrug zugunsten Shafiks gegeben hat oder nicht, ist nicht eindeutig zu sagen: Obwohl schon im ersten Wahlgang Vorwürfe laut wurden, dass die Daten von Millionen von Rekruten, Polizisten und Verstorbenen in das Wahlregister geschmuggelt wurden, um den Stimmenanteil Shafiks zu erhöhen, weigerte sich die Wahlkommission, Einblicke in das Register zu gestatten.
Doch vermutlich hat das Regime ohnehin geglaubt, dass es durch die gewaltige Maschinerie des Staatsapparates den Sieg Shafiks auch ohne allzu plumpen Wahlbetrug einfahren könnte. Doch es verkalkulierte sich und musste daher "Plan B" in Kraft setzen: Maßnahmen, die einen Wahlsieg Mursis entweder in letzter Minute verhindern oder den Schaden durch dessen Sieg minimieren würden.
Aus Angst vor solchen Maßnahmen hat die Bruderschaft ihr Wahlergebnis schon vor der Bekanntgabe des offiziellen Ergebnisses durch die Wahlkommission veröffentlicht: In jedem Wahllokal wurde – bei Anwesenheit eines Repräsentanten der Kandidaten – nach der Stimmauszählung ein vom anwesenden Richter unterzeichnetes Auszählprotokoll angefertigt. Durch die Veröffentlichung all dieser Protokolle erhielt das vorab bekannt gegebene Ergebnis, das den Sieg Mursis dokumentierte, also große Glaubwürdigkeit, weshalb der Druck auf die Wahlkommission, Mursi den Sieg zuzugestehen, durch dieses Vorgehen erheblich stieg.
Dass dieser Schritt nicht unbegründet war, zeigte der kurz nach der Wahl verbreitete Vorwurf, dass die Muslimbruderschaft in einer der offiziellen Stimmzetteldruckereien in großem Stil für Mohamed Mursi vorab ausgefüllte Stimmzettel produziert hätte.
Angst vor der Reaktion auf der Straße
Betrachtet man die zweifelhafte Rolle, die die regimenahe Führungsriege der politisierten ägyptischen Justiz, die auch in der Wahlkommission vertreten ist, während der Wahlen gespielt hat, wäre eine Disqualifikation durch fingierte Beweise durchaus vorstellbar gewesen. Doch am Ende war die Angst vor der Reaktion auf der Straße zu groß und der Militärrat musste Ahmed Shafik opfern, um seine umfangreichen ökonomischen und politischen Interessen zu wahren. Stattdessen verabschiedete er noch rechtzeitig ein Verfassungsdekret, das die Macht des Präsidenten auf ein Minimum reduziert.
Dieses Dekret entreißt dem neuen Präsidenten jegliche Autorität über sämtliche Militärangelegenheiten, einschließlich der Ernennung der Kommandeure. Der gegenwärtige Vorsitzende des Militärrats, Mohamed Hussein Tantawi, bleibt der Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Und auch für Kriegserklärungen muss sich Mursi die Erlaubnis des Militärrats einholen.
Hinzu kommt, dass der Militärrat einen Nationalen Verteidigungsrat ernannt hat, der sich aus elf Militärs, dem Präsidenten, dem Parlamentspräsidenten und vier Kabinettsmitgliedern zusammensetzt. Sein Zuständigkeitsbereich ist noch nicht genau definiert, doch das Gremium soll für die Belange der "Nationalen Sicherheit" zuständig sein.
Damit dürften die Befugnisse der vom Präsidenten einzusetzenden Regierung erheblich eingeschränkt werden, da alle sensiblen Ressorts, also Inneres, Justiz, Verteidigung, Äußeres und auch Rundfunk dadurch dem Einfluss des Verteidigungsrates ausgesetzt wären.
Doch damit nicht genug: Durch die Auflösung des Parlaments hat der Militärrat auch noch die Gesetzgebung und das Budgetrecht an sich gerissen. Und der Vorsitzende eines Beratergremiums des Militärrats, Sameh Ashour, erklärte, dass der neue Präsident ohnehin nur bis zur Verabschiedung der neuen Verfassung im Amt bleiben würde. Die Machtmonopolisierung durch das Militär gipfelte schließlich in einem De-facto-Vetorecht über den Inhalt eben dieser noch auszuarbeitenden Verfassung.
Die Reaktion der Muslimbruderschaft war deshalb eindeutig und scharf: Sie wies das Verfassungsdekret und auch die Auflösung des Parlaments zurück und erklärte beide Schritte für null und nichtig.
Um ihren Standpunkt zu untermauern, begann die Organisation, täglich auf dem Tahrirplatz zu demonstrieren. Hunderte bis Tausende ihrer Mitglieder campierten seitdem auch nachts auf dem Platz und die Brüder kündigten an, landesweit an allen derartigen Protestaktivitäten teilzunehmen. Doch nicht nur das: um noch mehr Stärke gegenüber dem Militärrat zu demonstrieren, schmiedete die Muslimbruderschaft öffentlichkeitswirksam eine Allianz mit zahlreichen nicht-islamistischen Oppositionsgruppen und hochrangigen Persönlichkeiten.
Wille zur Konfrontation
Diese Allianz verkündete, dass die Bruderschaft die Vertreter der nicht-islamistischen Opposition in Form von Vizepräsidenten und der Mitarbeit im künftigen Kabinett beteiligen wird. Im Kabinett selbst wird es demnach keine Mehrheit der Muslimbruderschaft geben und auch der Premierminister soll eine unabhängige Person sein.
In einer zweiten gemeinsamen Position lehnt die neu geschmiedete Allianz das neue Verfassungsdekret wie auch die Schaffung eines Nationalen Verteidigungsrates geschlossen ab. Jihad Al-Haddad, ein Sprecher der Muslimbruderschaft, sagte der New York Times zudem, dass von nun an alle Gespräche mit dem Militärrat über diese Allianz geführt werden würden.
Durch diese Allianz der stärksten Oppositionspartei mit nicht-islamistischen Organisationen und Führungsfiguren hat die Bruderschaft den Militärrat, der bisher von der Spaltung der Opposition profitieren konnte, in letzter Minute erheblich unter Druck gesetzt.
Dagegen half schließlich auch die parallel von einigen staatlichen und privaten Medien gestartete Hetzkampagne gegen die Bruderschaft nicht mehr, im Rahmen derer die Zeitung Al-Dostur zum Beispiel ohne Angabe von Quellen von einem Geheimtreffen der Organisationsführung berichtete, auf dem angeblich diskutiert worden sei, wie im Falle eines Wahlsieges Shafiks ein "Massaker" im Land angerichtet werden soll.
Doch die Muslimbruderschaft gibt sich mit diesem Etappensieg keineswegs zufrieden. Sie kündigte nach ihrem Wahlsieg bereits an, dass sie bis zur Rücknahme des Verfassungsdekrets auf dem Tahrirplatz verbleiben wird. Die Tatsache, dass die Organisation dort bereits aus Ziegelsteinen bestehende Waschräume gemauert hat, unterstreicht die Glaubwürdigkeit dieser Aussagen.
Der Wille zur Konfrontation zeigt sich auch in der Aussage des Wahlkampfteams Mursis, dass dieser seinen Amtseid nicht wie vom Militärrat gefordert, vor der ägyptischen Justiz leisten wird, sondern nur vor dem (eigentlich aufgelösten) Parlament.
Sollte es bei dieser Entschlossenheit bleiben, ist es – in Anbetracht der nach dem Wahlsieg überall auf den Straßen spürbaren neuen Hoffnung – durchaus möglich, dass Mursis Präsidentschaft am Ende mehr Macht erhalten wird, als man im Moment erwartet.
Matthias Sailer
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de