Erdoğan und die dreifache Spaltung
Nach den Parlaments- und Präsidentenwahlen in der Türkei vom 24. Juni ist Recep Tayyip Erdoğan nun der erste türkische Staatsführer, der mit der uneingeschränkten exekutiven Macht des neuen türkischen Präsidialsystems regieren kann. Allerdings verlor seine "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" (AKP) nicht nur die parlamentarische Mehrheit, sondern auch rund sieben Prozent ihrer Unterstützer.
Auch die "Republikanische Volkspartei" (CHP), die größte Oppositionspartei, schnitt enttäuschend ab: Bekam sie 2015 noch 25 Prozent der Stimmen, waren es dieses Mal gerade mal 22 Prozent. Bei den Präsidentschaftswahlen landete ihr Kandidat Muharrem İnce mit 30 Prozent Stimmanteil auf dem zweiten Platz. Und die kurdenfreundliche "Demokratische Partei der Völker" (HDP) konnte dank der Unterstützung von Wählern aus der Westtürkei die Zehn-Prozent-Hürde nehmen und damit ins Parlament einziehen. Viele der kurdisch dominierten Gebiete in der Türkei wählten weiterhin die AKP – trotz deren Vorwahlbündnis mit der "Nationalistischen Bewegung" (MHP). Die Ultranationalisten kamen diesmal auf fast 12 Prozent der Stimmen. Damit unterscheidet sich ihr Ergebnis kaum von dem bei der letzten Wahl, aber angesichts der neuen Bündnisse im Parlament werden sie dort in Zukunft erheblichen Einfluss haben.
Einfache Gründe für komplexe Ergebnisse
Seit 2014 sind die Türken viermal zur Wahlurne geschritten. Es gab zwei Parlamentswahlen, ein Verfassungsreferendum und eine Präsidentschaftswahl. Doch wie der politische Analyst Bekir Ağırdır sagt: "In den letzten fünf Jahren haben wir nicht gewählt, sondern über Identitäten abgestimmt."
Laut Ağırdır hat sich die türkische Politik in diesen Identitätsfragen verstrickt. Seiner Ansicht nach spielen die Wirtschaft, die Umwelt, die Geschlechterpolitik, die Ausbildung und weitere Themen, die bei den Debatten in anderen Demokratien häufig im Mittelpunkt stehen, für die Wahlen in der Türkei keine Rolle. In einem stark fragmentierten Land entscheiden sich Wähler nicht anhand von Themen, sondern stimmen über Identitätsfragen ab. Dabei kommt immer das Gleiche heraus: die Aufspaltung in drei Regionen.
Die erste dieser Regionen ist der westliche Küstenbereich der Türkei – zumeist sind dort die Eliten weltlich eingestellt, gut ausgebildet. Wirtschaftlich ist die Region hoch entwickelt. Die zweite ist die Zentraltürkei, die immer noch staatliche Unterstützung benötigt und in der überwiegend religiös-konservative und weniger gut ausgebildete Menschen leben. In der dritten und am wenigsten entwickelten Region, die sich auf die kurdischsprachigen Gebiete erstreckt, fordert die Bevölkerung die Anerkennung ihrer kurdischen Identität.
Die erste regionale Gruppe wählt vorzugsweise die CHP, die allerdings in den anderen Regionen kaum Stimmen erhält. Die zweite ist die mit Abstand größte Gruppe, sie wählt vor allem die AKP oder die MHP. Und die dritte und kleinste dieser regionalen Gruppen unterstützt die kurdenfreundliche HDP – eine Partei, die bei den meisten Menschen in den anderen Regionen als tabu gilt.
Angesichts dieses fragmentierten Gesamtbildes lässt sich eine allgemeine Tendenz feststellen, wonach die Wahlergebnisse sich wiederholen – unabhängig davon, was die einzelnen politischen Parteien aktuell versprechen. Auch bei den Neuwahlen vom 24. Juni traf diese Entwicklung abermals zu, auch wenn es in einigen Fällen Abweichungen gegeben hat.
Komplexe Gründe für einfache Veränderungen
Das türkische Volk nimmt Wahlen sehr ernst. Dies lässt sich schon allein daran ablesen, dass die Wahlbeteiligung stets sehr hoch ist. Am vergangenen Sonntag lag sie bei fast 90 Prozent, eine der höchsten Wahlbeteiligungen überhaupt. Neu ist nicht nur das Präsidialsystem, sondern auch ein vielschichtiges Wahlsystem. Die Wähler sollten nicht nur für eine von ihnen favorisierte Partei in dem insgesamt 600 Sitze umfassenden Parlament stimmen, sondern auch unter sehr verschiedenen Präsidentschaftskandidaten auswählen.
Das neue System begünstigt eine strategische Vorgehensweise. Bei den Präsidentschaftswahlen stimmten die meisten der Wähler, die sich normalerweise für die AKP entscheiden und bei den letzten Wahlen etwa 49 Prozent der Wählerstimmen holten, erneut für Recep Tayyip Erdoğan. Hinzu kamen noch einige Stimmen von Anhängern der MHP, die keinen eigenen Kandidaten aufgestellt hatte. Allerdings schien dieses Mal ein Teil der bisherigen AKP-Stammwählerschaft von der offensichtlichen Arroganz des Präsidenten, den Problemen mit der Justiz und dem wirtschaftlichen Niedergang des Landes genug zu haben. Bei der Wahl votierten sie daher nicht mehr für die AKP, sondern stattdessen für die MHP.
Viele dieser neuen MHP-Unterstützer glauben, der türkische Staat stehe vor einer existenziellen Bedrohung. Die Sorge ist groß angesichts der US-amerikanischen Waffenlieferungen an syrische Kurden, die mit der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) in Verbindung stehen. Außerdem fürchten sich viele dieser neuen Anhänger der Ultranationalisten vor prominenten Mitgliedern der Gülen-Bewegung, die für den fehlgeschlagenen Putsch im Jahr 2016 verantwortlich gemacht werden und angeblich in Deutschland Unterschlupf gefunden haben. Ihrer Ansicht nach ist keine der Oppositionsparteien in der Lage, die gegenwärtigen außenpolitischen Herausforderungen und Probleme des Landes zufriedenstellend zu meistern.
Mit den von der AKP gewonnenen Stimmen konnte die MHP jene Verluste von Wählergruppen ausgleichen, die sie an die neu gegründete "Gute Partei" (IYI) verloren hatte – eine Partei, die ebenfalls am rechten Rand steht und nationalistisch ausgerichtet ist. Auch der CHP konnte diese neue Partei einige Stimmen abnehmen, insbesondere von jenen Nationalisten, die glauben, die etablierten Parteien sollten eine härtere Konfrontation mit der HDP suchen.
Muharrem İnce, der Präsidentschaftskandidat der CHP, war der einzige Kandidat, der aus allen drei Segmenten der Gesellschaft Unterstützung bekam. Damit konnte er persönlich sogar seine eigene Partei in den Schatten stellen. Vor der Wahl hatte er Selahattin Demirtaş besucht, den inhaftierten Präsidentschaftskandidaten der HDP, und eine Lösung der Kurdenfrage versprochen, die auf Gleichberechtigung beruhen sollte. Er sagte auch, das Kopftuchverbot werde nie wieder zurückkehren. Und er versprach, alle wirtschaftlichen Fördermaßnahmen der AKP weiterführen zu wollen – und sogar noch weiter auszubauen.
Blockade durch Spaltung
Viele ließen sich von İnce überzeugen, allerdings waren solche Versprechen von der CHP selbst nicht zu hören, weshalb die Partei von der Beliebtheit ihres Kandidaten auch nicht wirklich profitieren konnte. Insbesondere im Westen stimmten viele potenzielle CHP-Wähler für die HDP – in der Hoffnung, diese damit über die Zehn-Prozent-Hürde zu hieven und so den Einfluss der AKP im Parlament zu minimieren. Umgekehrt stimmten einige HDP-Anhänger für İnce als Präsidenten. Diese Entwicklung spiegelte wohl auch den Wahlkampf wider, der dadurch behindert wurde, dass viele wichtige HDP-Politiker immer noch im Gefängnis sitzen.
Dies sind also die Gründe dafür, dass die Spaltung der türkischen Gesellschaft eine so starke Fragmentierung der Wahlergebnisse zur Folge hatte. Obwohl die Wähler ihr Verhalten geringfügig verändert hatten, entschieden sie sich doch weitgehend für dieselben Vorwahlbündnisse wie bisher. Laut Einschätzung von Analysten wie Ağırdır kann diese Blockade nur durch eine Politik gelöst werden, die die Forderungen und Sorgen aller drei Bevölkerungsgruppen zufriedenstellend berücksichtigt.
Momentan muss Präsident Erdoğan, der zwar über große exekutive Macht verfügt, aber keine parlamentarische Mehrheit hat, auf die Unterstützung der MHP hoffen. Für die EU-Beitrittspläne der Türkei oder die Lösung des Kurdenkonflikts ist dies kein gutes Zeichen. Und da die Vergangenheit gezeigt hat, dass die MHP oft ein unberechenbarer Partner ist, stehen der AKP womöglich schwierige Zeiten bevor.
Ayse Karabat
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Aus dem Englischen von Harald Eckhoff