Der Kampf um das Erbe der Gülen-Bewegung
Schulen beschlagnahmt, Wohnheime verstaatlicht, Zeitungen geschlossen und zehntausende Anhänger im Gefängnis: Gut ein Jahr nach dem gescheiterten Militärputsch gegen Präsident Recep Tayyip Erdoğan steht es nicht gut um die Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, die in der Türkei für den Umsturzversuch verantwortlich gemacht wird. War die Bruderschaft einst in der Türkei so mächtig, dass sie schlicht als "Cemaat" (Gemeinde) bekannt war, ist sie heute als Terrororganisation verboten. Ihre Strukturen sind zerschlagen, ihr Vermögen eingezogen und ihre führenden Mitglieder sitzen in Haft, sind ins Exil geflohen oder wurden zur Fahndung ausgeschrieben.
Seit der Zerschlagung der Gülen-Bewegung und ihrer Vertreibung aus dem Staatsdienst ist ein Wettstreit um Posten und Ressourcen entbrannt, dessen Ausgang noch völlig offen ist, erklärte der türkische Soziologe Mehmet Ali Caliskan. Die Nationalisten sowie eine Reihe konservativer islamischer Bruderschaften hofften, die staatlichen Institutionen ganz unter ihre Kontrolle zu bringen. Es sei eine "sehr instabile und verwirrende Situation", die nicht von Dauer sein könne, so Caliskan.
In dem Machtkampf geht es zum einen um die Posten, die durch die Entlassung der Gülen-Anhänger im Staatsdienst freigeworden sind. Mehr als 140.000 Angestellte in Verwaltung, Justiz, Militär und dem Bildungswesen wurden seit dem Putschversuch per Notstandsdekret ihrer Posten enthoben. Den meisten wirft die Regierung Verbindungen zur Gülen-Bewegung vor, andere sind beschuldigt, zur PKK-Guerilla oder anderen verbotenen bewaffneten Gruppen zu gehören.
Beschlagnahme im großen Stil
Zum Anderen geht es um die Verteilung des Vermögens der Gülen-Bewegung, das seit dem Putschversuch beschlagnahmt wurde. Direkt nach dem Umsturzversuch wurden 1.043 Schulen, 1.229 Vereine und Stiftungen, 35 Krankenhäuser und 15 Universitäten per Dekret geschlossen. Die Zeitung "Zaman" war bereits zuvor vom Staat übernommen worden. Bis Juli 2017 wurden fast tausend Firmen beschlagnahmt, darunter Großkonzerne wie Boydak, Koza-Ipek und die Gülen-nahe Bank Asya.
Insgesamt fielen so Vermögenswerte von mehr als elf Milliarden US-Dollar an den Staat. Verwaltet werden sie vom Staatsfonds TMSF, der die Firmen verkaufen soll. Der Erlös soll in den Staatshaushalt fließen, doch zuvor muss die Beschlagnahme bestätigt werden, was selbst im politisierten Justizsystem der Türkei einige Zeit dauern kann. Zwar soll der Fonds die Firmen und Immobilien meistbietend verkaufen, doch besteht der Verdacht, dass AKP-nahe Firmen und Stiftungen bevorzugt werden.
Zu den wichtigsten Profiteuren gehören die Stiftungen Türgev und Tügva, die seit der Zerschlagung der Gülen-Bewegung ihr Netz aus Wohnheime und Schulen deutlich ausgebaut haben. Türgev war 1996 von Erdoğan gegründet worden, noch heute sitzen sein Sohn Bilal und seine Tochter Esra im Vorstand. Auch Tügva hat enge Verbindungen zur AKP. Medienberichten zufolge haben sie mehrere der Gülen-Wohnheime erhalten, auch soll der Staat ihnen günstig Grundstücke überlassen haben.
Akteure im Kampf um Posten und Ressourcen
Weitere wichtige Akteure im Kampf um Posten und Ressourcen sind konservative Bruderschaften wie Menzil und Süleymancilar. Die Gülen-Bewegung war zwar die mächtigste, doch nicht die einzige religiöse Bruderschaft in der Türkei. Vielmehr gibt es eine ganze Reihe weiterer Cemaats, die wie die Gülen-Bewegung eigene Schulen, Wohnheime und Medien betreiben. Die meisten von ihnen sind Ableger des Nakschbandi-Khalidi-Ordens, einem besonders orthodoxen sunnitischen Sufi-Orden.
Für die AKP seien die Cemaats die natürlichen Verbündeten, sagt ein Istanbuler Soziologe, der nicht namentlich genannt werden will. Schließlich hätten Erdoğan und viele andere AKP-Politiker selbst ihre Wurzeln in der Iskenderpasa-Bruderschaft, einem politisch besonders einflussreichen Ableger des Nakschbandi-Ordens. Seit dem Zerwürfnis mit Gülen setze Erdoğan daher auf Sufi-Bruderschaften wie die Süleymancilar oder die Ismailaga Cemaat, um die Lücke im Bildungswesen zu füllen.
Der informelle Pakt mit den Gülenisten
Erdoğan habe nie genug eigene Leute gehabt, um den Staat zu kontrollieren, erklärt der Politologe Svante E. Cornell in Stockholm. Nach seinem Machtantritt habe er sich daher mit Gülen verbündet, der seit den 1960er Jahren ein Netzwerk aus Wohnheimen, Schulen und Nachhilfeeinrichtungen aufgebaut hatte, deren frommen, aber modern ausgebildeten Absolventen für Erdoğan die idealen Kader waren, um Posten in Verwaltung, Justiz und Polizei zu besetzen.
Erdoğan teilte mit Gülen das Ziel, eine "fromme Generation" zu schaffen. Doch trotz ihrer ähnlichen Weltsicht und Zielsetzung, verschmolz die Gülen-Bewegung nie ganz mit der AKP. Anders als die AKP hatte sie ihre Wurzeln nicht im Nakschbandi-Orden, sondern in der Bewegung von Said Nursi. Vor allem aber war Gülen nie bereit, sich Erdoğan unterzuordnen, weshalb sich die beiden Männer 2013 überwarfen und die informelle Koalition mit der Gülen-Bewegung zerbrach.
Cornell findet es richtig, dass die Regierung den Einfluss der Gülen-Bewegung seitdem zurückgedrängt hat. Schließlich handele es sich um einen "Kult mit einer versteckten Agenda", der von ihren Anhängern absolute Loyalität verlange, sagt der Politologe. Das Problem sei nur, dass die Bruderschaften, die nun an ihre Stelle rückten, noch weitaus konservativer seien. Wenn sich Erdoğan durchsetze, warnt Cornell, werde die Mentalität der künftigen Führungselite "absolut mittelöstlich und antiwestlich" sein.
Nach dem Vorbild des Propheten
Besonders auffällig ist dies bei der Ismailaga Cemaat, die derzeit im Bildungswesen an Einfluss gewinnt. Ihre Anhänger versuchen, ganz nach dem Vorbild des Propheten zu leben, weshalb die Männer Bart, Turban, Mantel und Pluderhose tragen, während sich die Frauen in schwarze Schleier hüllen. In ihrer Hochburg im Istanbuler Stadtteil Fatih gibt es neben den religiösen Schriften des Ordensgründers alkoholfreies Parfüm und Zweige zu kaufen, wie sie der Prophet zum Zähneputzen benutzt haben soll.
Heute sei die AKP "eine Koalition aus Cemaats", sagt der Istanbuler Soziologe, der anonym bleiben will. Erdoğan diene als oberster Manager, der Posten und Ressourcen verteile und versuche, eine Machtbalance zu halten, damit keine Bruderschaft wieder zu stark werde. Allerdings ist das Problem, dass er seit dem Zerwürfnis mit der Gülen-Bewegung auch ein Bündnis mit den Ultranationalisten der MHP geschlossen hat, um seine Macht zu sichern.
Wie Caliskan erklärt, sehen diese es mit Unmut, dass die Bruderschaften in den Bildungssektor drängen. Heute würden manche Ministerien von Bruderschaften kontrolliert, andere von den Nationalisten, sagt der Soziologe. Diese Aufteilung der Regierung zwischen rivalisierenden Gruppen sei keine "nachhaltige oder konsistente Strategie". Niemand wisse, wie der Machtkampf enden werde.
Ulrich von Schwerin
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