Plädoyer für einen umfassenden Blick

Jede Betrachtung hat einen Anfangspunkt. Manchmal ist er nicht eindeutig und man muss entscheiden, wo man beginnt. Der Anfangspunkt formt unsere Sichtweise und bestimmt, welche Schlussfolgerungen wir ziehen.
Nehmen wir den 7. Oktober 2023, den Tag des Hamas-Massakers im Süden Israels. Die damalige deutsche Außenministerin Annalena Baerbock bezeichnete diesen blutigen Tag als „eine Zäsur für Israel, für unser Land, für die Welt”.
„Der Tag wird von jüdischen Communities als ‚Einschnitt‘ beschrieben, der das Leben grundlegend verändert hat”, heißt es auch bei der Bundeszentrale für Politische Bildung. „Viele beginnen ihre Erzählungen genau mit der Erinnerung an diesen Tag, der für sie einen historischen Beginn oder Bruch in ihrer Geschichte darstellt.“
Zäsur, Bruch, sogar Beginn der Geschichte – ein Punkt, von dem aus man alles bewertet, was danach geschieht.
Aus palästinensischer Perspektive dagegen ist der 7. Oktober kein isolierter Anfang, sondern das Ergebnis einer langen Serie von Ungerechtigkeiten, die ihnen widerfahren sind. Palästinenserinnen und Palästinenser setzen den Tag in einen Kontext.
Die Akademikerin Yara Hawari etwa betont, dass man zur Einordnung der Ereignisse vom 7. Oktober zunächst Jahrzehnte israelischer Besatzung, den „Siedlerkolonialismus” sowie die langjährige brutale Blockade des Gazastreifens verstehen müsse – eine Blockade, die das Gebiet in ein Freiluftgefängnis verwandelt habe.
Und Noura Erakat, eine der eloquentesten Stimmen einer jüngeren Generation von Palästinensern in den USA, fragt: „Was haben Sie denn geglaubt, was eine Bevölkerung, die seit 56 Jahren unter Besatzung steht und seit 17 Jahren einer lähmenden Blockade ausgesetzt ist, tun würde?“ „Rassistischer Kolonialismus“, wie sie es nennt, führe zu dieser Art von Gewalt.
Gigantisches Radikalisierungsproramm
Im Nahostkonflikt stehen sich heute zwei traumatisierte Seiten gegenüber und durch welches Prisma man blickt, bestimmt den Anfangspunkt der Betrachtung. Beim Trauma gibt es keinen richtigen oder falschen Anfangspunkt – bei der Analyse aber schon.
Denn er leitet uns auch darin, welche Lösungen wir suchen. Setzen wir einen falschen Anfangspunkt, sind unsere vermeintlichen Lösungen möglicherweise keine. Sehen wir den 7. Oktober als einen Bruch oder gar als Anfang der Geschichte, lautet die Schlussfolgerung: Man muss nur die Hamas ausschalten, dann ist die Welt wieder in Ordnung.
Es ist genau das, was Israels Premierminister Benjamin Netanjahu propagiert und als sein Kriegsziel formuliert hat. Auch die im jüngsten Trump-Gaza-Deal beinhaltete Entwaffnung der Hamas verkauft er jetzt als Ausschaltung der Organisation und somit als Erfolg.
Dabei stellen sich zwei Fragen: Ist das ausgegebene Ziel realistisch? Und zweitens: Sollte das Ziel tatsächlich erreicht werden, ist das Problem dann wirklich gelöst? Ich würde beide Fragen mit Nein beantworten.
Seit zwei Jahren macht die israelische Armee weite Teile des Gazastreifens dem Erdboden gleich, vertreibt Hundertausende, setzt sogar Hunger als Waffe ein. Doch trotz ihrer militärischen Überlegenheit hat sie es nicht geschafft, die Hamas auszuschalten.

Im Griff der Moralpanik
Der Bundestag hat jüngst eine weitere Resolution gegen Antisemitismus verabschiedet. In diesem Artikel zeichnet die Soziologin Donatella della Porta die deutschen Antisemitismusdebatten nach. Sie argumentiert, eine „Moralpanik“ habe zu einem Verwaltungsapparat geführt, der vor allem der Unterdrückung progressiver Stimmen dient.
Im Gegenteil: Was wir in Gaza erleben, ist ein gigantisches Radikalisierungsprogramm der Palästinenser. Wie wird sich ein Kind, das nach einem israelischen Angriff aus den Trümmern geborgen wird, unter denen seine Eltern verschüttet sind, in seinem späteren Leben politisch positionieren? Die militärische Lösung ist nicht nachhaltig.
Ziviler Ungehorsam hat nichts gebracht
Wenn man die Geschichte dagegen als fortlaufenden Prozess betrachtet, in dem jede Entscheidung, jede Aktion und selbst jeder vermeintliche Bruch aus dem vorherigen Kontext entstanden ist, dann zieht man aus dem 7. Oktober völlig andere Schlüsse, die zu anderen Lösungen führen.
Dann stellt die israelische Besatzung den Kern des Problems dar. Auch nach dem Abzug der israelischen Siedler und der Armee im Jahr 2005 gilt der Gazastreifen weiter als besetztes Gebiet, da Israel sowohl die Land- und Seegrenzen als auch den Luftraum kontrolliert. Diese Auffassung bekräftigte im vergangenen Jahr auch der Internationale Gerichtshof (IGH) in den Haag in einem Gutachten.
Die Vorstellung einer friedlichen Besatzung, gegen die sich die Besetzten nicht wehren, ist ein Widerspruch in sich. Zwar könnten sich die Besetzten auch mit zivilem Ungehorsam wehren, nur ist die palästinensische Erfahrung: Es hört niemand zu, wenn sich ein Bauer im Westjordanland an seinen Olivenbaum kettet, damit ihm sein Land nicht genommen wird.
Die Palästinenser haben in ihrer Geschichte stets nur Aufmerksamkeit bekommen, wenn sie sich militanter und terroristischer Mittel bedient haben, vom Olympia-Attentat und den Flugzeug-Entführungen in den 1970er Jahren bis zu den Hamas-Anschlägen auf Busse in Israel in den 90er Jahren und den Hamas-Raketen vor dem 7. Oktober.
Für solch brutale Anschläge auf Zivilisten darf es kein Verständnis geben. Allerdings gibt es im Deutschen einen Unterschied zwischen Verständnis und Verstehen – und man sollte sich die Mühe machen, zu verstehen, aus welcher Logik die Angriffe entspringen. Nur wer diese Zusammenhänge versteht, kann die Situation nachhaltig verändern.
Kontext Abraham-Abkommen
Auch der Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 wurde zu einer Zeit geplant, als das Schicksal der Palästinenser weitestgehend vergessen war. Der Status quo ihrer täglich gelebten Besatzung war in den Medien weltweit und auch in Israel kein großes Thema mehr.
Selbst einige arabische Staaten, allen voran die Arabischen Emirate, hatten auf Initiative Trumps in den Abraham-Abkommen 2020 diplomatische Beziehungen zu Israel aufgenommen, auch eine Freihandelszone und Visafreiheit wurde vereinbart. Die Besatzung und die Palästinenser waren dabei kaum eine Fußnote wert. Niemand sprach mehr von ihnen – bis sie am 7. Oktober wieder ganz oben auf die internationale Tagesordnung rutschten.

Pax Israelia oder Bellum Aeternum?
Israel gestaltet den Nahen Osten um, mithilfe der USA. Manche hoffen auf mehr Stabilität in der Region, doch das Projekt birgt das große Risiko eines nicht endenden Krieges.
Verstehen muss man diesen Mechanismus zudem aus medialer Perspektive, also vor dem Hintergrund der Frage, ab welchem Punkt wir einen Konflikt – die Palästinenser würden sagen: eine Ungerechtigkeit – überhaupt wahrnehmen.
Das Ende der Besatzung wäre die Lösung
Aber zurück zur Frage des Anfangspunkts. Wenn man die israelische Besatzung als Kontext des 7. Oktober sieht, begreift man die Hamas als direktes Produkt dieser Konstellation. Die Hamas ist nicht im luftleeren Raum geboren worden, sondern ist ein Teil der palästinensischen Militanz, die unter der Besatzung entstanden ist.
Wenn es für die Palästinenser keine politischen Perspektiven gibt, wird es immer militante Antworten auf die Besatzung geben. Solange sie besteht, wird sich Widerstand formieren. Selbst wenn es keine Hamas mehr gäbe, würde eine andere Organisation, deren Namen wir noch nicht kennen, ihren Kurs weiterführen.
Und unterdessen zerstört das Trauma die Köpfe auf beiden Seiten – die der Besetzten und die der Besatzer. Das versperrt weiter den Blick und führt zu viel Leid, aber zu keiner Lösung.
Der Haaretz-Journalist Gideon Levy hat es geschafft, das alles in einem Satz zusammenzufassen: „Es gibt keinen israelisch-palästinensischen Nahostkonflikt, es gibt nur eine brutale israelische Besatzung und die muss beendet werden.“
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