Ein obsessiver Archivar
Ahmed Hasans außergewöhnliche und exzessive Leidenschaft begann, als er als Kind das Fotostudio eines Verwandten in den Qalamun-Bergen nordöstlich von Damaskus besuchen durfte.
Der heute 59-Jährige war fasziniert vom Geruch der Chemikalien, mit denen der Negativfilm entwickelt wurde, vom Blitz an der Kamera. Diese „großartige Maschine“, wie Hasan sie nennt, die analoge Kamera, war für ihn immer mehr als nur ein Werkzeug. Sie war ein Versprechen auf eine magische Welt, die es zu entdecken galt, die sich unter dem Firnis des Sichtbaren und Sagbaren verbarg.
„Wenn Licht auf einen Ort oder Gegenstand fällt, verwandelt es manchmal eine gewöhnliche Szene in etwas Lebendiges und Magisches, das es wert ist, ins kollektive Gedächtnis überzugehen“, sagt Hasan. „Ich begann zu begreifen, wie ein Foto Zeit aufbewahren und eine Geschichte erzählen kann.“
In seiner Jugend erbte er von seinem Großvater eine alte deutsche Kamera, eine Kodak Retina aus den 1940er-Jahren. Sie wurde zur Initialzündung einer tiefen und langjährigen Verbindung mit der Kunst der Fotografie. Mit ihr dokumentierte er flüchtige Momente in seinem Dorf, die Gesichter der Menschen oder Details des Alltagslebens.
Aus dem Archiv (8 Bilder)
Ahmed Hasans eigentliche Obsession wurde aber nicht das Fotografieren, sondern das Archiv, die Pflege von Fotos als historische Dokumente der Erinnerung. Schon sein Vater besaß ein umfangreiches Familienarchiv mit Bildern aus den 1950er- und 1960er-Jahren. Mit der Zeit begann Hasan selbst, alte Fotoarchive zu sammeln.
Seine ersten Fundstücke waren Fotografien einer bürgerlichen Familie aus Aleppo vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Auf diesen Bildern entdeckte er bald mehr als nur Gesichter, sondern Geschichten, Gesten, Kleidung, Räume, so als hätten sie nur auf ihn gewartet, um nach all der Zeit, manchmal nach einem Jahrhundert, wieder zum Leben erweckt zu werden. Er erkannte, dass ein Foto oft mehr verbirgt, als es zeigt, dass es Signifikanten zum Verstehen historischer Umbrüche in unscheinbaren Details liefern kann.
Hasans Archiv umfasst private Fotos aus unterschiedlichen Regionen und Epochen Syriens. Zu jedem Bild sucht er den Kontext, recherchiert soziale, politische und kulturelle Zusammenhänge.
„Ich wollte Geschichten finden, die man nicht in Büchern liest, weil sie in den Gesichtern einfacher Menschen stehen.“ Menschen, die keine Rollen in Romanen oder der allgemeinen Geschichtsschreibung spielen.
So entstand ein riesiges Archiv, das das politische, gesellschaftliche und kulturelle Leben Syriens von der französischen Kolonialzeit (1920–1946) über die syrisch-ägyptische Union (1958–1961) bis hin zur Herrschaft der Baath-Partei (1963–2024) dokumentiert.
Seine Obsession ging so weit, dass er wertvolle persönliche Besitztümer veräußerte, um Aufnahmen aus bekannten syrischen Fotostudios zu erwerben.
Am Ende verkaufte er sogar sein eigenes Haus, um die andauernde Archivarbeit zu finanzieren: ein kollektives Gedächtnis, das über Jahrzehnte so diverse soziale und kulturelle Räume wie Trauerfeiern, den Alltag einfacher Frauen in den Dörfern bis hin zu studentischem Leben in den Metropolen umfasst.
So ist Ahmed Hasans Lebenswerk weit mehr als nur Fotografie. Es ist ein Widerstand gegen das Vergessen, eine stille, bildgewordene Erzählung Syriens und seiner Menschen.
Lesen Sie diesen Artikel in unserer gemeinsamen Printausgabe mit dem Magazin Kulturaustausch. Weitere Analysen, Interviews und Reportagen finden Sie in unserem Syrien-Schwerpunkt.
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