Kampf gegen das Vergessen
Der Anschlag in Hanau jährt sich zum ersten Mal. Wie kann man so ein traumatisches Ereignis als Podcast aufarbeiten?
Alena Jabarine: Das Tolle an dem Format ist, dass es viel Raum und Flexibilität bietet, sich einem Thema anzunähern. Außerdem hilft das Format Podcast natürlich dadurch, dass man nur mit kleinen Mikrofonen, also ohne Kameras, arbeitet und dadurch eine intimere Atmosphäre erzeugen kann. Wir haben uns entschieden, auf zwei Ebenen zu arbeiten. Die erste Ebene ist die Reportage-Ebene. Dafür sind wir Ende letzten Jahres nach Hanau gefahren und haben vor Ort mit Angehörigen und Betroffenen gesprochen, um herauszufinden, welche Fragen eigentlich noch offen sind und was die Betroffenen am meisten beschäftigt.
Für die zweite Ebene haben wir die Reportage-Elemente mit Hilfe von Expertinnen und Experten in einen größeren Kontext gestellt. Denn es geht uns in dem Podcast nicht nur um das Attentat an sich, sondern vielmehr um die Frage: In welchem Klima konnte so ein Anschlag geschehen? Und was bedeutet das eigentlich für unsere Gesellschaft?
Mit welchen offenen Fragen seid ihr an das Projekt herangegangen?
Sham Jaff: Wir hatten viele offene Fragen. Die Ermittlungsarbeiten stehen teilweise ja noch ganz am Anfang. Hätte der Anschlag verhindert werden können? Diese Frage haben wir unseren Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern im Podcast immer wieder gestellt. Aber vor allem wollen wir mit dem Podcast den 19. Februar 2020 als historisches Ereignis im kollektiven Gedächtnis verankern. Wir haben in kurzen Interviews mit unterschiedlichen Passanten in Hanau aber auch in persönlichen Gesprächen im eigenen Freundes- und Bekanntenkreis gemerkt, dass der rechtsextreme Terroranschlag nicht für alle gleich bedeutend war. Es ist unsere Hoffnung, dass Podcasts wie dieser das verändern. Denn Hanau betrifft uns alle – nicht nur Menschen, die von Rassismus betroffen sind. Rechtsextremismus und Rassismus in Deutschland sind sehr gefährlich. Sie töten, und zwar immer wieder.
Die Wunden der Betroffenen sind sicherlich noch frisch und man ist ihnen Antworten schuldig. Wie bereitet man sich auf solche Gespräche vor und wie stellt man sicher, im Interesse der Betroffenen zu berichten?
Alena Jabarine: Die Wunden sind tatsächlich sehr frisch. Als wir die Interviews geführt haben, war der Anschlag noch nicht mal ein Jahr her. Da sitzt der Schock natürlich noch tief. Wir sind daher nach Hanau gefahren und haben die „Initiative 19. Februar“ als Anlaufstelle genutzt, in der sich alle Angehörigen gemeinsam mit Unterstützern organisiert haben. So konnten wir langsam Vertrauen aufbauen. Stück für Stück sind dann die Gespräche entstanden.
Es war also wenig geplant, sondern vieles spontan, da wir natürlich auch Rücksicht darauf nehmen wollten, wie es den Familienangehörigen gerade ging und ob sie überhaupt die Kraft für ein Interview hatten. Geholfen hat sicher, dass die Betroffenen selber auch wollten, dass über das Attentat berichtet wird, um den öffentlichen Druck aufrecht zu erhalten.
In Gedenken an die Opfer des rassistischen Anschlags vom
19. Februar 2020 in #Hanau
Sedat Gürbüz, Ferhat Unvar, Mercedes Kierpacz, Fatih Saraçoğlu, Kaloyan Velkov, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun und Gökhan Gültekin#19februar#NiemalsVergessen pic.twitter.com/MGtVu6vvyc— Inst. für Toleranz und Zivilcourage 19.Feb Hanau (@Hanau19Februar) February 19, 2021
Was war die größte Herausforderung?
Sham Jaff: Die größte Herausforderung beim Projekt war es, aktuell zu bleiben. Wir haben diesen Podcast, beziehungsweise die Reportage dazu, Ende 2020 angefangen. Stück für Stück ist seitdem immer wieder Neues ans Licht gekommen. Und das mussten wir natürlich in den Podcast mit einarbeiten.
Alena Jabarine: Außerdem war es nicht einfach, sich für bestimmte Themenkomplexe zu entscheiden. Das Thema rechtsextremer Terrorismus geht unglaublich tief, vor allem wenn man es in den größeren gesellschaftlichen Kontext einbetten will. Vieles konnten wir daher natürlich nur anreißen und auch nicht jede Frage abschließend beantworten.
Zu den Themen, die ihr anreißt, gehört zum Beispiel, dass die Polizei zu spät reagiert hat und lange nicht erreichbar war. Es ist auch von einem Rassismus die Rede, der "von der Politik gefördert wird". Wie gehen Polizei und Politik in Hanau mit solchen Fragen um?
Sham Jaff: In den Monaten nach dem Anschlag waren alle ziemlich still. Aber seit Ende letzten Jahres, seitdem die Angehörigen auch Strafanzeigen gestellt haben und der öffentliche Druck größer wird, äußern sich Polizei und Politik nach und nach. Dafür hat es wohl diesen öffentlichen Druck gebraucht. Ich frage mich, was passiert wäre, wenn die Familienangehörigen nicht genauer nachfragen würden.
Zum Beispiel: Am letzten Tatort gab es einen Notausgang. Den hätten die Opfer nutzen können, um zu fliehen. Jetzt wurde bekannt, dass der Notausgang versperrt war und es gibt Gerüchte, dass die Polizei selbst die Verriegelung angeordnet hätte, damit bei Polizeikontrollen niemand entwischen kann. Das ist ein Beispiel für die schonungslose Aufklärung, die die Familienangehörigen verlangen.
Unbedingte Hörempfehlung für diesen wichtigen Podcast zum rechtsextremen Terroranschlag in Hanau vor einem Jahr. #Hanau #hanauwarkeineinzelfall #KeinVergessen #SayTheirNames @sham_jaff @AlenaIsabelle @kurtsarbeit @ville_vallo https://t.co/imgGsMVhcK
— CLAIM (@CLAIM_Allianz) February 15, 2021
„Ich werde niemals Teil der deutschen Gesellschaft sein“
Im Trailer hört man einen jungen Mann aus Hanau sagen, er habe „die Spaltung akzeptiert“. Was meint er damit?
Alena Jabarine: Diese Aussage ist ein Ausschnitt aus einem Interview mit Jaweid Gholam, einem jungen Mann aus Hanau, der ein Nachbar und guter Freund der Opfer Ferhat Unvar und Hamza Kurtović war und weitere Opfer persönlich kannte. In der Tatnacht selbst war er noch wenige Minuten vor dem Anschlag mit Ferhat zusammen. Wir waren mit ihm in Hanau unterwegs, er hat uns sein Viertel Kesselstadt gezeigt, in dem sich auch der zweite Tatort befindet. Wir wollten wissen, wie sich sein und das Leben anderer junger Menschen nach dem Anschlag in Hanau verändert hat.
Jaweid war immer noch sehr mitgenommen, er hat den Anschlag bis heute nicht verkraftet. Außerdem hat er uns erzählt, dass er und viele seiner Freunde seit dem 19. Februar 2020 endgültig akzeptiert hätten, dass sie, obwohl in Deutschland geboren, niemals ein Teil der deutschen Gesellschaft sein könnten. Und dass ihm mit dem Anschlag erst bewusst geworden sei, wie viel Alltagsrassismus er sein Leben lang geschluckt habe. Das ist natürlich eine traurige Erkenntnis, die so auch nicht von allen jungen Gesprächspartnern geteilt wird. Dennoch war es wichtig für uns, seine Sichtweise abzubilden.
Gibt es ein Zitat oder einen Moment, die euch bei den Recherchen besonders in Erinnerung geblieben sind?
Alena Jabarine: Es gab unglaublich viele starke Momente, vor allem während der Interviews. Die Familienangehörigen haben in den Gesprächen große Stärke gezeigt. Sie mussten sich so zusammenreißen, um ihren Schmerz herunterzuschlucken, weil es ihnen wichtig ist, die Aufklärung des Anschlags voranzutreiben.
Als Bild habe ich immer noch die drei frischen Gräber von Ferhat Unvar, Hamza Kurtović und Said Nesar Hashemi vor Augen, den drei Freunden, die heute in ihrer Geburtsstadt nebeneinander begraben liegen. Ich sehe die drei Geburtsjahre auf den vorläufigen Grabsteinen vor mir: 1996, 1997, 1998. Am nächsten Morgen haben wir eine Umfrage auf dem Markt gemacht, wobei wir, neben einem NPD-Mitglied, auf einige Menschen getroffen sind, für die Hanau nicht mehr als ein tragischer Einzelfall ist.
Rechtsextremismus ist kein neues Phänomen
In den Medien wird oft vom "Erstarken der Rechten" gesprochen. Ist das eine angemessene Sichtweise? Der Attentäter von Hanau reiht sich doch in eine lange Liste des deutschen Rechtsextremismus ein.
Sham Jaff: Natürlich ist das nicht angemessen. Vielen Menschen in Deutschland ist nicht klar, dass der Rechtsextremismus eine lange Geschichte hat. Er ist kein neues Phänomen. Solingen, Mölln, Rostock-Lichtenhagen, der NSU-Komplex, München, Halle, die sogenannte „Gruppe S“. Das sind nur einige Beispiele. Rechtsextremisten haben zwischen 1990 und 2020 in Deutschland etwa 200 Menschen getötet – und das sind “nur” die Fälle, bei denen die politische Motivation der Täterinnen als gesichert gelten kann.
Die reale Bedrohung durch die rechtsextreme Szene in Deutschland, vor allem innerhalb der Polizei, ist eine längst überfällige Debatte. Rechtsextremismus hat nicht mit Hanau angefangen und wird sicher nicht mit Hanau aufhören. Wir sprechen auch über den Täter und seine Vergangenheit und darüber, inwieweit er den Behörden bekannt war. Wie konnte es passieren, dass er nicht als rechtsextremer Gefährder eingestuft worden war? Es gab mehr als genug Anlässe dafür, bei ihm genauer hinzugucken. Das ist aber nie passiert. Das ist auch ein großes Thema in unserem Podcast.
Wie habt ihr die mediale Wahrnehmung des Anschlags von Hanau in Deutschland über das Jahr hinweg wahrgenommen?
Sham Jaff: Einerseits war es positiv, dass die meisten Medien relativ schnell von einem rassistisch motivierten, rechtsterroristischen Anschlag redeten. Andererseits haben einige Medien in Deutschland in der Tatnacht spekuliert, ob es sich doch nicht um die sogenannte Spielautomatenmafia handle oder eventuell „die Russen“ etwas damit zu tun hätten.
Solche verfrühten oder pauschalisierten Aussagen sind gefährlich. International und deutschlandweit wurde lange Zeit leider auch die Annahme verbreitet, dass das Attentat an lediglich zwei Shisha-Bars stattfand. Das stimmt so nicht. Das ist auch ein Thema im Podcast. Darüber hinaus wurde der türkische Präsident Erdogan des Öfteren zitiert und hat so anfangs die Narrative vereinnahmt. Er hat gesagt, dass die meisten Opfer türkischer Herkunft gewesen seien. Das waren sie aber nicht. Das hat mich als Kurdin sehr geärgert.
Unabhängig von eurem Podcast und den vielen weiteren Reportagen, Portraits und Interviews, die zum Jahrestag erscheinen werden: Wie kann man in Deutschland nachhaltig und ehrlich des Anschlags von Hanau gedenken? Was würdet ihr euch von der Gesellschaft wünschen?
Sham Jaff: Das ist eine schwierige Frage. Rechtsextremismus und Rassismus sind eine Bedrohung für die gesamte Gesellschaft in Deutschland. Der strukturelle Rassismus durchdringt ja alle Bereiche unseres Alltags – angefangen in den Schulen. Als kurdische Geflüchtete habe ich das selbst sehr stark erlebt. Nachhaltig und ehrlich wäre es, wenn wir es schaffen, Hanau in einem größeren Kontext zu betrachten und hartnäckig darauf bestehen, dass Hanau Thema bleibt. Ehrlich wäre es auch, den Rechtsextremismus und Rassismus überall zu bekämpfen – in den Schulen, auf den Straßen, in der Politik und innerhalb der Sicherheitsbehörden.
Alena Jabarine: Ich sehe das wie Sham. Klar ist es wichtig, einzelne Anschläge aufzuklären, bis es keine offenen Fragen mehr gibt. Viel wichtiger ist aber, zu verstehen, in welchem Klima sie überhaupt entstehen konnten. Warum Menschen mit solchen rassistischen Weltbildern in Deutschland leben, lernen und arbeiten können, ohne aufzufallen. Warum wir, wenn es um Terrorismus geht, bislang leider immer noch zu selten nach rechts schauen.
Erst wenn wir den Rassismus innerhalb unserer Gesellschaft immer wieder adressieren, und das fängt schon im Kleinen an, und oft auch bei uns selbst, dann kommen wir vielleicht irgendwann an den Punkt, an dem auch Menschen, die als anders markiert werden, sich in Deutschland wieder sicher fühlen können. Können alle Anschläge verhindert werden? Vermutlich nicht, aber zumindest wollen wir erreichen, dass auf allen Ebenen alles dafür getan wird, damit eine Tat wie in Hanau nicht wieder passiert.
© Qantara.de 2021
„190220 – Ein Jahr nach Hanau“ ist eine Produktion von Spotify Studios und ACB Stories. Redaktion: Viola Funk, Alena Jabarine, Sham Jaff, Şeyda Kurt. Produktion: Isabel Woop und Jan-Philipp Wilhelm (ACB Stories).
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