Mit Hochgeschwindigkeit in die Zukunft
Bahnhöfe in Marokko sind Bauten der Superlative, überdimensionierte Träume aus Glas und Beton. Der Bahnhof Rabat Agdal soll der größte Afrikas sein. Von hier aus fährt der moderne Hochgeschwindigkeitszug „Al Boraq“ aus der Wirtschaftsmetropole Casablanca kommend weiter in Richtung Tanger im Nordwesten Marokkos.
Langsam rollt der Zug durch die Vororte von Rabat, nimmt dann aber zusehends Fahrt auf. Hinter der Stadt Kenitra erreicht er auf schnurgerader Strecke mit über 320 Stundenkilometern seine Spitzengeschwindigkeit. „Al Boraq“ ist der erste Hochgeschwindigkeitszug Afrikas.
Er braust vorbei an Wellblechhütten, kleinen Dörfern und weidenden Schafen. Man sieht Frauen, die mit gebückten Rücken auf Feldern arbeiten und Bauern, die auf Pferde- oder Eselskarren Waren transportieren. Der Kontrast zwischen dem hochmodernen Zug und dem Landleben könnte kaum größer sein.
Symbol für eine ehrgeizige Politik der Modernisierung
Bis 2035 soll das Schienennetz für den Hochgeschwindigkeitszug 1.500 Kilometer betragen und irgendwann einmal über Algier und Tunis bis nach Tripolis in Libyen führen. Allerdings liegen die Beziehungen zwischen Marokko und Algerien wegen des Streits um die Westsahara seit Jahrzehnten auf Eis und Libyen versinkt im Chaos.
Bereits vor der Einweihung des Prestigeprojekts mit Marokkos König Mohammed VI. und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron im November 2018 haben die erheblichen Kosten von rund zwei bis drei Milliarden Euro (je nach Quelle) und das Fehlen jeder öffentlichen Ausschreibung für Kritik gesorgt.
Der Zug ist zum Symbol für eine ehrgeizige Politik der Modernisierung geworden, mit der König Mohammed VI. sein Land zum Vorreiter in ganz Nordafrika machen will.
Seit der Jahrtausendwende hat das arabische Land dabei durchaus wichtige Schritte auf dem Weg von einer agrarischen zu einer Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft gemacht. Mohammed VI., oder M6 wie er in Marokko genannt wird, verfolgt dabei eine Doppelstrategie. Er will einerseits wirtschaftlich und politisch näher an Europa rücken und orientiert das Land gleichzeitig hin zu den Zukunftsmärkten nach Westafrika.
Drehscheibe im internationalen Handel
Eine Schlüsselrolle für die Wirtschaftszusammenarbeit mit Europa nimmt dabei Tanger ein. An der Straße von Gibraltar direkt vor der Küste Spaniens gelegen, ist es geradezu dafür prädestiniert, als Drehscheibe im internationalen Handel zwischen Europa, Afrika und Asien zu fungieren.
Mit dem Containerhafen Tanger Med und einer Freihandelszone wurden seit 2008 mehr europäische Investoren angelockt. Inzwischen ist Tanger Med zum größten Containerhafen im Mittelmeer mit einer jährlichen Kapazität von neun Millionen Containern aufgestiegen.
In der Freihandelszone hat sich neben Textilunternehmen wie der spanischen Billig-Kette Zara, neben Airbus und Boeing vor allem der französische Autokonzern Renault 2012 angesiedelt. Renault produziert in Marokko sein Modell „Dacia“ sowohl für den heimischen Markt als auch für den Export nach Europa.
Auch Peugeot stellt seit 2019 in Marokko Autos her. Eine marokkanische Zulieferindustrie ist entstanden, so dass rund die Hälfte der für die lokale Produktion verwendeten Autoteile in Marokko hergestellt werden, was es sonst weder in Tunesien noch in Algerien oder Ägypten.
Der Blick nach Afrika
Während die Europäische Union der wichtigste Wirtschaftspartner Marokkos bleibt, orientiert sich Mohammed VI. seit seinem Amtsantritt 1999 verstärkt in Richtung Afrika südlich der Sahara. Im Westen wird diese Neuorientierung noch wenig wahrgenommen.
Rund 3,7 Milliarden Euro hat Marokko in Schwarzafrika investiert, vor allem in den Branchen Banken und Versicherungen, Telekommunikation, Pharmazie und Düngemittel. Maroc Telekom etwa ist bereits in 25 afrikanischen Ländern mit über 1.400 Niederlassungen vertreten. Neben Südafrika ist Marokko heute der größte innerafrikanische Investor auf dem Kontinent.
Für Christoph Kannengießer vom Afrika-Verein der deutschen Wirtschaft macht diese Strategie durchaus Sinn. „Während im alternden Europa die Märkte weitgehend gesättigt sind“, meint Kannengießer, „ist Afrika jung und hungrig nach Wachstum, Wohlstand und Entwicklung.“ Die Region habe einen „gewaltigen Nachholbedarf“. Länder wie die Elfenbeinküste und Senegal gehören weltweit zu den Staaten mit den höchsten Wachstumsraten.
Politisch flankiert wird diese Strategie durch den Wiedereintritt in die Afrikanische Union 2017 nach 32 Jahren Abwesenheit. Außerdem hat er Marokko als Bildungsstandort für junge Afrikaner positioniert. Attraktive Stipendien ziehen Studierende aus ganz Afrika an.
Kamen sie in den 1990er Jahren nur vereinzelt nach Marokko so lag die Zahl der Studenten aus Schwarzafrika in 2019 nach Angaben des Erziehungsministeriums bereits bei rund 20.000, die Hälfte von ihnen verfügt über Stipendien des marokkanischen Staates. Nach ihrer Rückkehr in die Heimatländer sollen sie als „Botschafter Marokkos“ die Position des Königreichs auf dem Kontinent dauerhaft stärken.
Für seine Doppelstrategie erhält Marokko viel Applaus aus Europa, das sich über einen anscheinend stabilen Staat in Nordafrika freut. Wirtschaftsexperten loben das Geschäftsklima. Im Doing-Business-Index der Weltbank hat in den letzten Jahren kaum ein Land mehr Fortschritte gemacht als Marokko, das von Platz 130 um die Jahrtausendwende auf Platz 53 in dem Index im Jahr 2019 geklettert ist.
Die Schattenseiten der neoliberalen Modernisierung
Doch die positiven Wirtschaftsdaten verdecken die erheblichen Defizite des marokkanischen Weges. Sie sagen auch nichts über die Spannungen aus, die die neoliberale Modernisierungspolitik von „M6“ im Land schafft. In Marokko selber werden diese Schattenseiten stärker wahrgenommen als in Europa. Sie liegen direkt im autokratischen System des Landes begründet, in dem der Monarch und eine mit ihm verbundene Business-Elite Wirtschaft und Politik dominieren.
Denn Mohammed VI. ist nicht nur vermutlich der reichste Mann Afrikas. Nach Angaben des US-Magazins Forbes wurde sein Vermögen bereits 2017 auf fünf Milliarden Euro geschätzt, es hatte sich gegenüber 2011, dem Jahr des Arabischen Frühlings, verdoppelt. „M6“ ist auch der erste Geschäftsmann und oberste Investor des Landes. Staatliche und persönliche Interessen vermischen sich.
Über seine Unternehmensgruppe Al Mada (vor 2018 Société Nationale d’Investissement) verfügt er über Anteile an Unternehmen in allen wichtigen Branchen. Wenn die Marokkaner in der Supermarktkette Marjane einkaufen gehen, dann füllen sie auch seine Kassen. Bei Großprojekten wie „Al Boraq“ finden keine transparenten öffentlichen Ausschreibungen oder Machbarkeitsstudien statt, mit dem Palast verbundene Unternehmer erhalten den Zuschlag.
Die Investitionen konzentrieren sich einseitig auf die Küstenregion mit den Wirtschaftszentren Tanger und Casablanca, während es abseits der Großstädte an Basisinfrastruktur wie Wasserversorgung, Elektrizität, Bildung, Transport oder Gesundheit fehlt. In Teilen des Landes können Kinder nicht zur Schule gehen, weil Transportmöglichkeiten fehlen oder kleine Ortschaften noch nicht einmal an das Straßennetz angeschlossen sind. Nach wie vor gibt es eine relativ hohe Anzahl von Analphabeten, vor allem unter Frauen in ländlichen Regionen.
Hohe Arbeitslosigkeit und wachsende Ungleichheit
Neben einer hohen Arbeitslosigkeit vor allem bei den unter 25-Jährigen ist es diese regionale und die soziale Ungleichheit, die viel Unmut hervorruft. Denn auch Ungleichheit ist in Marokko stärker ausgeprägt als in den Nachbarländern. Zehn Prozent der Bevölkerung leben in absoluter Armut. Die Ursachen für die Ungleichheit liegen laut einer Studie von Oxfam von 2019 vor allem in einem besonders ungerechten Steuersystem, in dem Unternehmen wie etwa in den Freihandelszonen und Reiche kaum, die Masse der Marokkaner jedoch relativ stark besteuert wird, einem schlechten staatlichen Bildungssystem und dem starken Gefälle zwischen Stadt und Land.
Das öffentliche Bewusstsein für diese Ungleichheit und die Selbstbereicherung einer mit dem Palast verbundenen Wirtschaftselite wächst. Sie entzündet sich auch am Hochgeschwindigkeitszug „Al Boraq“. War es um die Kampagne Stop TGV etwas still geworden, so brachten in der Corona-Krise kritische Stimmen den Gegensatz zwischen dem Hochgeschwindigkeitszug und einem maroden Gesundheitssystem wieder in die Diskussion ein.
Neue Formen des zivilen Ungehorsams
„Bevor man das nächste Mal eine Hochgeschwindigkeitsstrecke baut, während es dem Krankenhaus nebenan an Desinfektionsmitteln fehlt, sollte man besser nochmal nachdenken“, sagte etwa Omar El Hyani, Stadtrat von Rabat und einer der führenden Köpfe der Kampagne Stop TGV dem politischen Magazin TelQuel.
Weil aber offener Protest wegen der verschärften staatlichen Repression schwierig ist, sind neue Formen des zivilen Ungehorsams entstanden. In 2018 riefen anonyme Netz-Aktivisten dazu auf, kein Sidi Ali-Mineralwasser, keinen Danone-Joghurt und kein Benzin bei Afriquia mehr zu kaufen. Vordergründig ging es darum, dass die Produkte überteuert wären.
Tatsächlich richtete sich die Boykottkampagne gezielt gegen führende mit dem Königshaus verbundene Unternehmer, sagt der marokkanische Ökonom Omar Brouksy. Der Erfolg der Kampagne lässt sich daran bemessen, dass allein Danone Marokko innerhalb weniger Wochen einen Verlust von 150 Millionen US-Dollar einfuhr.
„Wir haben es hier mit einem neuen öffentlichen Bewusstsein zu tun“, stellte Transparency Maroc fest. Diese Spannungen unterstreichen die Ambivalenz des Entwicklungswegs. Es bleibt die Frage, wie lange die Marokkaner noch bereit sind, soziale Ungleichheit und Vetternwirtschaft hinzunehmen.
Claudia Mende
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