Putins Kampf, unsere Illusionen
Mitte Februar wurden die Kriegsberichterstatter des arabischen Nachrichtensenders Al-Jazeera, die ich aus Bagdad, Gaza, Beirut oder Kabul kannte, plötzlich nach Lviv, Kiew und Odessa geschickt — lebenslustige europäische Städte, die ich auf vielen Reisen kennen und lieben gelernt habe. Noch war unklar, ob Putin wirklich angreifen würde; doch als ich die Reporter von Al-Jazeera in der Ukraine sah, ließ sich die Erkenntnis nicht mehr verdrängen: Hier und jetzt endet der europäische Frieden. Das Chaos, wie es seit 2001 in der muslimischen Welt tobte, stürmt wie ein Raubtier, das fettere Beute wittert, jetzt auf uns zu: die mitteleuropäischen Wohlstandsgesellschaften und ihren allzu lang vernachlässigten Vorhof, die Ukraine.
Den falschen Feind gejagt
Zwanzig Jahre lang haben unsere Politiker und Experten ihre Augen auf den falschen Feind gerichtet, den politischen Islam. Wie harmlos er von heute aus betrachtet anmutet! In keinem Moment stellte er eine existenzielle Gefahr dar, die mit dem heutigen Krieg zu vergleichen wäre. Der krisengeschüttelte Islam war ein dankbarer Gegner. Man führte einen weltanschaulichen Kreuzzug zur "Deradikalisierung“ der Muslime, wollte sie zu "westlichen Werten“ bekehren. Nur dass die meisten Araber und Muslime diese längst teilen, wie etwa ein Blick in die arabische Literatur klarmacht — wenn wir sie nur läsen!
Während die Amerikaner in Irak und Afghanistan Terroristen suchten, sie dabei neu erschufen und aussichtslose "asymmetrische“ Kriege gegen den Terror führten, wurde die größere Gefahr vor unserer Haustür geflissentlich übersehen: "Bin Putin", ein Terrorist mit biologischen, chemischen und atomaren Waffen. Statt ihm auf die Finger zu schauen, haben wir ihn zwanzig Jahre lang aufgepäppelt und gemästet, haben ihm seine Raubzüge in Georgien, auf der Krim, im Donbass verziehen, seine Giftgasattacken und politischen Morde in unseren Städten hingenommen und mit ihm so lange Geschäfte gemacht, wie es nur irgend ging — ja wir machen sie immer noch.
Wladimir Putin, der russische Präsident, muss sich nicht in Höhlen verstecken und kann auf Selbstmordattentäter verzichten. Ganz Gentleman im schwarzen Maßanzug und mit roter Krawatte kann er seinen Krieg nach den Regeln der Haager Landkriegsordnung von 1907 führen. Sollten seine Panzer und Flugzeuge für den Sieg nicht reichen, hat er genug Atomwaffen, um die Welt zu zerstören. Unsere Sicherheitsexperten haben den falschen Feind gejagt. Der richtige sitzt ihnen jetzt im Nacken. Können wir ihnen noch glauben, dass er wirklich nur die Ukraine erobern will und nicht den ganz großen Konflikt mit „dem Westen“ sucht? Einen echten Weltkrieg, der den Namen Putin dem überlebenden Rest der Menschheit unvergesslich macht?
Krieg mit Ankündigung
Dieses Totalversagen unserer Sicherheitsexperten erinnert an die Vorgeschichte von 9/11. Obwohl die CIA Osama bin Laden und einige der späteren Attentäter beobachtete, zogen sie nicht die richtigen Schlüsse, unterschätzten die Gefahr, verstrickten sich in Kompetenzgerangel. Wenige Tage später wurden Passagierflugzeuge ins World Trade Center gelenkt. Die Amerikaner lernten daraus und warnten diesmal vor dem Krieg. Aber auch das war zu spät. Der Entschluss zum Angriff war in Putin längst gereift, wie man in seinem Essay "Über die historische Einheit von Ukrainern und Russen“vom Juli letzten Jahres nachlesen kann.
Die Gefahr, die von Putin und seiner Entourage ausging, war altbekannt. Freunde und Kollegen von der Kölner Akademie der Künste der Welt, die aus Russland gekommen waren, kehrten schon 2014 nicht mehr in ihre Heimat zurück. Sie wussten, warum. Der russische Soziologe Lev Gudkov beschrieb 2015 folgendes Zukunftsszenario: "Die Eskalation des bewaffneten Konflikts zwischen den gegnerischen Seiten beginnt in der Ukraine und 'zwingt‘ Putin, die russische Armee direkt und offen in die östlichen und südlichen Regionen der Ukraine einmarschieren zu lassen. Man könnte eine Art von bisher unvorstellbarem Kriegsabenteuer erwarten — zum Beispiel einen Angriff auf Kiew und die Einnahme der Zentralukraine mit der anschließenden Angliederung der östlichen und südlichen Regionen an Russland.“
Mit dem russischen Präsidenten in einem Boot
Zwar glaubte Gudkov, dass Putin einen solchen Krieg und dann auch die Macht verlieren würde; aber das ist nur schwacher Trost. Wie im Fall von 9/11 hat der Angreifer sein Ziel schon in dem Moment erreicht, wenn der Krieg beginnt. Dieses Ziel besteht darin, die dem Angreifer verhasste Vorkriegswelt in den Mülleimer der Vergangenheit zu kippen. Das ist Putin gelungen. Was vor dem 24.2.2022 als selbstverständlich galt, liegt heute schon so fern wie die Spaßgesellschaft der neunziger Jahre nach dem 11.9.2001.
Denn mit der Attacke verändern sich automatisch auch die Spielregeln. Um mitzuhalten, müssen wir nach neuen Regeln spielen. Folglich verändern wir uns, bleiben nicht mehr die, die wir waren: vor kurzem noch ewige Pazifisten, die kein Geld für Rüstung ausgeben wollten; oder, wie vor 9/11 verträumte Anhänger des Multikulturalismus. Wenn alle mitgerissen werden, gibt es für niemanden einen guten Ausweg, irgend eine Art von Sieg. Das beste, worauf man hoffen darf, ist Schadensbegrenzung. Ob wir es wollen oder nicht, heute sitzen wir mit Putin in einem Boot. Um uns herum der Ozean einer ungewissen Zukunft, und jede Partei kann den Stöpsel ziehen und es versenken.
Europas Rechte: Putins fünfte Kolonne
Putins Krieg lässt auch die innenpolitischen Querelen Europas und der USA in den letzten zwanzig Jahren in unerwartetem Licht erscheinen. Die neuen Rechten, die sich seit 9/11 vor allem über ihre Islamfeindschaft definieren, sind spätestens seit der "Flüchtlingskrise“ von 2014/15 mit Putin und seiner Propaganda ein Bündnis eingegangen, das an die Moskauhörigkeit westlicher Kommunisten im Kalten Krieg erinnert.
Der Gleichschritt zwischen Islamkritikern und Putin ist keine Nebensache, sondern gehört zu Putins Kalkül für diesen Krieg dazu — und könnte ihn eines Tages zu seinen Gunsten entscheiden. Spätestens dann nämlich, wenn Trumps Republikaner die nächsten Wahlen gewinnen. Erinnern wir uns: Trump hat mit dem ukrainischen Präsidenten noch ein Hühnchen zu rupfen. 2019 wollte Selenskyj Panzerabwehrwaffen von den USA. Trump forderte von ihm als Gegenleistung, den in der Ukraine tätigen Sohn Bidens vor Gericht zu stellen. Der Streit mündete in ein Amtsenthebungsverfahren gegen Trump. Die Gefahr ist groß, dass ein von Trump-Republikanern geführtes Amerika die Ukraine und Europa fallen lassen wird wie eine heiße Kartoffel und den Handel mit Russland wieder aufnimmt.
Neue Kulturkampfrhetorik
Putins autoritärer Appeal für die neuen Rechten bleibt auch deshalb groß, weil er eine altbekannte anti-westliche Rhetorik pflegt. Er verleiht der abgehalfterten konservativen Vorstellung vom Kampf der Kulturen und Zivilisationen neues Leben. Die auf diesem Weg gestärkte Logik der Ab- und Ausgrenzung kann dann jederzeit gegen andere gerichtet werden: Muslime, Afrikaner, Chinesen…
Die gegenwärtig zelebrierte Beschwörung des „Westens“ verheißt daher nichts Gutes. Dieser "Westen“ ist nämlich im Begriff, seiner eigenen Propaganda auf den Leim zu gehen. Putin hat (noch) nicht "den Westen“ angegriffen, sondern ein Land, das bis vor kurzem kaum ein Politiker dazu gezählt hätte. Die schamlose Behauptung, die Ukrainer verteidigten "uns“, die Demokratie, ja die gesamte "freie Welt“, nimmt sich vor diesem Hintergrund wunderlich aus. Sie bürdet den auf verlorenem Posten tapfer kämpfenden Ukrainern die Rolle eines Weltenretters auf, die sie nicht übernehmen können und auch nicht übernehmen sollten.
Afghanische Erinnerungen
Das Szenario weckt Erinnerungen an Afghanistan nach 9/11. Zwar wollten wir "unsere Freiheit auch am Hindukusch verteidigen“, wie es damals hieß. Von Anfang bis Ende waren es aber vor allem die Afghanen, die dafür den Kopf hinhalten mussten. Trotzdem waren wir nachher nicht bereit, diese Afghanen zu "uns“ zu zählen und aufzunehmen, wie die halbherzige Evakuierung von Ortskräften im Sommer 2021 gezeigt hat. Die Soldaten der afghanischen Armee, die zwanzig Jahre lang tatsächlich "für uns“ kämpften, rechneten wir ohnedies nie dazu, wie Emran Feroz unlängst richtig bemerkt hat.
Der wenig schmeichelhafte Schluss lautet: Der Westen ist die „Wertegemeinschaft“, die die Kunst, andere ohne echte Gegenleistung für sich kämpfen zu lassen, zur Perfektion getrieben hat. Indem wir behaupten, dass die Ukrainer "für uns“ kämpfen, müssen wir den dreckigen Job der militärischen Auseinandersetzung mit Putin nicht selbst erledigen. Das ist der tiefere, tabuisierte Grund für unsere fahnenschwenkende Identifikation und Solidarität mit der Ukraine.
Der Beweis: Sobald es wirklich schmerzhaft zu werden droht, gehen wir auf Distanz: Ein EU-Beitritt sei sehr kompliziert, ein Schnellverfahren gegen die Prinzipien, eine Flugverbotszone zu gefährlich, der Verzicht auf russisches Gas und Öl zu teuer. Kaum geht es um mehr, als Fahnen zu schwenken und den ukrainischen "Helden-Präsidenten“ (so die Bild-Zeitung) abzufeiern, tritt der Unterschied zwischen "uns“ und "ihnen“ offen zutage. So richtig es ist, den Ukrainern zu helfen, wenn sie um Hilfe bitten, so verlogen ist es, so zu tun, als seien sie mit uns identisch, kämpften vor allem "für uns“. Es ist genau so anmaßend und verlogen wie Putins Behauptung, "von der historischen Einheit der Russen und Ukrainer“.
Fazit: Nicht nur Russland braucht eine gesichtswahrende Exitstrategie aus diesem Krieg, wie oft gesagt wird, sondern auch die Ukrainer und der vom Glauben an seine Unübertrefflichkeit umnebelte "Westen“. Finden wir diese Exitstrategie nicht, wird Putins größenwahnsinniger Traum war, und er führt wirklich gegen "den Westen“ Krieg. Der erste Schritt zur Deeskalation besteht darin, der auf allen Seiten wütenden Kriegspropaganda und der perfiden, rechtslastigen Rhetorik vom Kampf der Werte, Kulturen und Zivilisationen entschieden entgegenzutreten.
© Qantara.de 2022
Stefan Weidner ist Autor und Übersetzer. 2021 erschien von ihm: "Ground Zero. 9/11 und die Geburt der Gegenwart“. Sein Reise-Essay über die Ukraine "Ins Griechenland des Ostens“ ist als e-Book bei Amazon erschienen.