Der Thron der arabischen Despoten wackelt

Menschenrechtler Saad Eddin Ibrahim sieht Anzeichen für eine demokratische Öffnung der autoritären arabischen Staaten. Die Islamisten dürften jedoch nicht vom politischen Dialog ausgeschlossen werden.

Interview von Saleh Diyab

Herr Ibrahim, im April vereinbarten die europäischen Außenminister, dass ein Dialog mit den islamistischen Bewegungen wie der Hamas und der libanesischen Hizbollah begonnen werden soll. Wie denken Sie darüber?

Saad Eddin Ibrahim: Ich begrüße den Ansatz. Ich rate allen, denen Demokratie ein Anliegen ist, den Dialog mit den islamistischen Bewegungen zu beginnen, egal, ob sie innerhalb oder außerhalb der arabischen Welt operieren. Die islamistischen Bewegungen sind heute Realität. Demokratie zu fordern und diese Bewegungen davon ausschließen zu wollen, ist Heuchelei.

Schließlich handelt es sich auch bei ihren Mitgliedern um Bürger, die den gleichen Anspruch auf Bürgerrechte haben wie alle anderen auch. Bewegungen wie die Hamas, die Hizbollah und die Muslimbrüder haben sich durch ihre sozialen Hilfsprojekte und durch ihre politischen Standpunkte legitimiert, sie genießen breite Unterstützung in der Bevölkerung.

Kann dieser Dialog die Zivilgesellschaft und die Demokratie in den arabischen Ländern und der gesamten islamischen Welt stärken?

Ibrahim: Natürlich. Denn je demokratischer man sich verhält, desto stärker wächst die Demokratie von innen. Das entkräftet auch die Behauptungen, die Demokratie entspräche nicht dem arabischen und islamischen Erbe. Die Beteiligung der Islamisten am Dialog und am demokratischen Prozess wird zeigen, wer sich nur oberflächlich für den demokratischen Wandel einsetzt. Auch werden dadurch die Orientalisten widerlegt, die verbreiten, dass Islam und Demokratie unvereinbar sind.

Wie kann die Europäische Union die Reformbewegungen in der arabischen Welt unterstützen?

Ibrahim: Zuerst indem sie ihre Anerkennung aller zivilen Kräfte in der arabischen Region versichert und in direkten Dialog mit ihnen tritt, ohne dass die jeweilige Regierung ihre Zustimmung dazu erteilen muss. Zweitens muss die Europäische Union ihre finanzielle und sicherheitspolitische Unterstützung der repressiven Systeme in der arabischen Welt aufgeben.

Drittens muss sie die arabischen Regierungen verpflichten, fortdauernd für eine freiheitliche Gesellschaft zu arbeiten und Zeitpläne für einen schrittweisen demokratischen Wandel zu befolgen. Sie muss mit den repressiven und despotischen arabischen Systemen so wie einst mit der Sowjetunion und ihren osteuropäischen Bündnisstaaten verfahren, als das Helsinki-Abkommen von 1975 die Auflösung des sozialistischen Systems in Gang setzte, ohne dass dabei auch nur eine einzige Kugel flog.

Lässt die Position, die die Europäische Union gegenüber arabischen Ländern mit repressiven Regierungssystemen wie Libyen oder Tunesien vertritt, nicht Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit aufkommen?

Ibrahim: Doch. aber nicht nur an der der Europäer, sondern auch an der Glaubwürdigkeit der Amerikaner. Womit wir auf die Doppelzüngigkeit, durch die man sich in den westlichen Ländern auszeichnet, zu sprechen kommen. Zwar betont man, wie wichtig die Demokratisierung der arabischen Welt sei, aber die meisten Staaten, wenn nicht alle, stellen wirtschaftliche und strategische Eigeninteressen über die Unterstützung der demokratischen Sache.

Als Befürworter der Demokratisierung der arabischen Welt begrüße ich dennoch jegliche Unterstützung - gleich von woher sie kommen mag, sei es aus Indien, Japan oder den USA. Denn dies sind pluralistische Gesellschaften, und so wie es bei ihnen Menschen gibt, die ihre wirtschaftlichen Interessen verfolgen, so gibt es auch diejenigen, die sich für Demokratie stark machen und Gleichgesinnte in der arabischen Region unterstützen wollen.

Wie beurteilen Sie den derzeitigen Stand der Reformbewegungen in der arabischen Welt?

Ibrahim: Es hat sich etwas bewegt. Wenn man heute auf die vergangenen 20 oder sogar 50 Jahre zurücksieht, so wackelt nun der Thron der Despoten, wenn er auch noch nicht gestürzt ist. Die Mauern der Angst, die die arabischen Despoten während der vergangenen 50 Jahre errichtet haben, bröckeln. Ich sehe die Risse darin jeden Tag größer werden.

Geben die libanesische Bürgerbewegung, die ägyptische "Kifaya"-Bewegung oder die Ansätze zum Widerstand in Saudi-Arabien Anlass zur Hoffnung?

Ibrahim: Diese Bewegungen sind Ausdruck der Risse, die durch die Mauern gehen. Sie zeugen von verminderter Angst und wachsendem Mut der arabischen Bürger, sogar in Ländern wie Syrien und Libyen, ganz zu schweigen von Ägypten, dem Libanon, Irak und Saudi-Arabien. Dort wurden die Intellektuellen Ali Al-Dumaini und Matruk al-Falih sowie Abdallah al-Hamid verhaftet, über deren Kampf ich zusammen mit einer saudischen Autorin berichtet habe. Wir rühmen sie bei jeder Gelegenheit, so wie auch andere Menschenrechtsorganisationen, z.B. amnesty international, Human Rights Watch oder die internationale Liga für Menschenrechte über sie berichten.

Wie sind die islamistischen Bewegungen gegenwärtig einzuordnen, deren Spektrum von Gewalttätern wie al-Zarqawi und seinen Anhängern bis zu den Muslimbrüdern und anderen Organisationen reicht, die inzwischen dafür eintreten, eine Veränderung auf friedlichem Weg zu erreichen?

Ibrahim: Wie andere soziale Bewegungen auch durchlaufen die islamistischen Bewegungen von ihrem Entstehen bis zur Reife verschiedene Stufen – Pubertät, dann Volljährigkeit, um schließlich mit ausgereifter Persönlichkeit auftreten zu können. Eine Bewegung wie die der seit 1928 bestehenden Muslimbrüder hat all diese Stufen durchlebt.

Ich denke, diese Bewegung ist reif dafür, sich an der Gestaltung einer friedlichen demokratischen Gesellschaft zu beteiligen. Muhammad Mahdi Akif, der Führer der Muslimbrüder, hat dies während einer Pressekonferenz im Sitz der Journalistengewerkschaft am 13. März 2004 betont und damit für großes Aufsehen gesorgt.

Auch in letzter Zeit haben er und andere Größen seiner Organisation diesen Kurs bestätigt. Die Muslimbrüder wollen eine legale Partei werden, die sich demokratischen Werten verpflichtet und die Rechte der Frauen und Minderheiten wahrt. Alle Ägypter sollen Mitglieder dieser Partei werden können, auch die Christen.

Daher fordere ich sämtliche Kräfte, im Inland wie im Ausland, auf, den Muslimbrüdern einen Platz einzuräumen und sie zur Umsetzung dessen, was sie zu ihrem Ziel erklärt haben, zu ermutigen. Auch andere islamistische Bewegungen, z.B. die Hizbollah, die Dawa-Partei im Irak oder die Hamas in Palästina haben diese Richtung eingeschlagen und sind bereits ein deutliches Stück vorangekommen.

Die ägyptische Opposition boykottiert die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen. Wie beurteilen Sie diese Haltung?

Ibrahim: Prinzipiell bin ich gegen den Boykott von Wahlen. Da jedoch Zweifel aufgekommen sind, ob die Wahl frei und fair durchgeführt wird, habe ich Verständnis für den Aufruf zum Boykott. Was in Tunesien geschah, darf sich nicht wiederholen. Das System gab vor, gerechte Wahlen mit mehreren Kandidaten durchzuführen, aber die Tunesier und der Rest der Welt wussten, dass das Ganze nichts als eine Komödie war: Die Regierung stellte Gegenkandidaten zu Präsident Zine el-Abidine Ben Ali auf, die sich lächerlich machten, indem sie die Wähler aufforderten, nicht sie, sondern Zine el-Abidine Ben Ali zu wählen.

Die ägyptische Opposition geht davon aus, dass nach der Änderung von § 76 des Grundgesetzes das Gleiche in Ägypten geschehen wird. Aber es ist noch nicht zu spät. Für besonders wichtig halte ich die Parlamentswahlen, die für kommenden November festgesetzt sind.

Ich verlange, dass sie von A bis Z gesetzlich kontrolliert werden, angefangen von den Wahllisten und Wahlunterlagen, über die Phase des Wahlkampfs bis zur Abstimmung, Auszählung der Stimmen und schließlich der Bekanntgabe des Wahlergebnisses.

Ich verlange eine Wahlbeobachtung, die alle Prozesse überwacht, sowohl in als auch vor den Wahllokalen. Es gilt zu verhindern, dass wie bei den Wahlen im Jahr 2000 Polizei vor den Wahllokalen stationiert wird mit dem Auftrag, die Wähler einzuschüchtern. Die Richterschaft ist dieses Problems gewahr geworden und berät sich darüber seit einigen Wochen in ihren Verbänden.

Die Richter haben erklärt, dass sie die vorgeschriebene Wahlbeobachtung nur durchführen, wenn sie ihre Unabhängigkeit, die ihnen während der vergangenen Jahrzehnte genommen wurde, zurückerhalten. Ebenso verlangen sie die Änderung der Gesetze, die sie politisch ermächtigt, eine vollständige Wahlüberwachung durchzuführen. Auch eine eigene Polizei bzw. Exekutivtruppe, die ihnen und nicht der Regierungsmacht untersteht, fordern sie. Wäre all dies gegeben, bestünde keine Veranlassung zum Boykott der Wahlen.

Sie haben sich zusammen mit anderen als Gegenkandidat zu Präsident Mubarak aufstellen lassen – warum?

Ibrahim: Das war ein Versuch, die Situation aufzumischen und die Änderung der Verfassung zu erwirken, nach der der Präsident durch Volksentscheid in seinem Amt bestätigt wird und seine Konkurrenten nicht durch eine Wahlabstimmung schlagen muss. Ziel meiner Kandidatur war, eine Auseinandersetzung mit dem gesamten politischen System in Ägypten in Gang zu setzen. Ich will die Mauern der Angst, von denen ich gesprochen habe, zum Einstürzen bringen.

Nawal as-Saadawi, mit der ich befreundet bin, sowie drei andere haben sich mir mit ihrer Kandidatur angeschlossen. Übereinstimmend vertraten wir die Forderung nach der Änderung der Verfassung dahingehend, dass die Präsidentschaftswahl unter mehreren Kandidaten entschieden wird. Durch den inländischen wie ausländischen Druck musste Präsident Mubarak zumindest einen Teil unserer Forderungen zugestehen. Und so wurde immerhin der Paragraph 76 geändert, so dass nun mehrere Präsidentschaftskandidaten aufgestellt werden.

Im Parlament jedoch, das von der regierenden Nationalen Partei beherrscht wird, wurde dieser Paragraph ausgehebelt. Den Mitgliedern der Regierungspartei, die über 90 Prozent der Politiker in den Wahlkomitees stellen, wurde die Entscheidungsgewalt darüber gegeben, wer sich zur Wahl aufstellen lassen darf und wer nicht. Was faktisch meine Disqualifizierung sowie auch die von Nawal Saadawi, Muhammad Farid Hassanain und des Kandidaten der "Ghad-Partei", Ayman Nur, bedeutet, der ebenfalls kandidieren will.

Die Regierungsmacht hat versucht, seinen Ruf zu zerstören, indem sie falsche Beschuldigungen gegen ihn erhob, die gleichen, mit denen man auch mich seit fünf Jahren auszuschalten versucht. Vielleicht stellen die kleinen Parteien irgendeinen Kandidaten auf. Aber die Aushebelung der Verfassungsänderung führt dazu, dass die ägyptischen Präsidentschaftswahlen eine Schmierenkomödie ähnlich den tunesischen sein werden.

Das Interview führte Saleh Diyab

Aus dem Arabischen von Stefanie Gsell

© Qantara 2005

Saad Eddin Ibrahim ist Menschenrechtler, Professor der Sozio-Politologie an der Amerikanischen Universität in Kairo und Leiter des Ibn-Khaldun-Zentrums für Entwicklungsstudien. Unter Präsident Mubarak wurde er zu einer Gefängnisstrafe verurteilt und musste sich drei Gerichtsprozessen unterziehen, bis ihn das oberste ägyptische Gericht, ein Berufungsgericht, freisprach. Ibrahim hat mehr als 30 Bücher über Demokratie und Menschenrechte in der arabischen Welt veröffentlicht.

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