Islam und Philosophie in der nahöstlichen Moderne
Initiatorin und Herausgeberin des Werkes "Wissenschaft, Philosophie und Religion. Religionskritische Positionen um 1900" ist die Islamwissenschaftlerin Anke von Kügelgen – eine der wenigen, die die Beschäftigung mit zeitgenössischer Philosophie aus der islamischen Welt im deutschsprachigen Raum kontinuierlich verfolgt. "Nahöstlich" versteht sie hier allein als geographische Kategorie, wie japanisch oder indisch.
Die Antwort auf diese Frage ist zunächst einfach: Ja, es wird seit 200 Jahren eine vehemente Debatte über das Verhältnis von rationaler, natur- und sozialwissenschaftlicher sowie religiös-mystischer Welterfassung geführt. Anke von Kügelgen zeigt, wie lebendig und aktuell diese Debatte ist.
Dabei macht sie drei Denkweisen im Umgang mit dem Einbruch der wissenschaftlichen in die religiöse Welt aus: Die Konfliktthese, die im Lichte neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse zu einer radikalen Religionskritik führte. Ihre Vertreter sehen Gott als Entwurf des Menschen nach seinem Ebenbild. Koran- und hadith-fest schleudern sie dem Gläubigen entgegen, wie denn ein barmherziger Gott so rachsüchtig sein könne, dass er eine Hölle entwerfe, in der Menschen auf ewig schmorten.
Kein Widerspruch zwischen Wissenschaft und Religion
Die Harmoniethese sieht keinen Widerspruch zwischen Wissenschaft und Religion, denn mit dem Koran seien auch neuzeitliche Erscheinungen wie Mikroben oder Demokratie abgedeckt. Im Konfliktfall müsse der menschlichen Vernunft gefolgt werden (denn dazu habe Gott sie dem Menschen mitgegeben), nicht dem Wortlaut der Offenbarung. Und die Autonomiethese, nach der Wissenschaft und Religion ihre jeweilige Berechtigung haben, aber keine gegenseitigen Ansprüche auf das Feld der anderen erheben dürften.
Verfechter dieser durchaus verbreiteten Weltanschauung wie Farah Antun, zitiert von Kügelgen mit Aussagen aus dem Jahr 1902 wie: "Die Religionen wurden (von Gott) gestiftet, um das jenseitige Leben zu regeln, nicht das diesseitige. Wer sie aber zur Regelung des Diesseits einsetzt, ist zum Scheitern verurteilt, auch wenn er anfangs Erfolg haben mag."
Im Verlauf dieser Auseinandersetzung wurden schon im 19. und 20. Jahrhundert die zentralen Texte europäischer Philosophie ins Arabische übertragen und kommentiert. Kant, Nietzsche, Darwin, Simon, Tolstoi, Spinoza, Heidegger, Marcuse, Russell, Popper, Derrida, Foucault und Habermas – sie alle wurden rezipiert und sind zentrale Bezugspersonen in der nahöstlichen Welt. Seit 1990 gab es 58 Übersetzungen von Heidegger ins Arabische.
Umgekehrt ist hierzulande kaum etwas über die Universalgelehrten aus dem Nahen Osten und Intellektuellen bekannt, die Übersetzungen, Kommentare und originäre Weiterentwicklungen angefertigt haben.
Forderung nach einem "Luther des Islams" vor 150 Jahren
So wird es viele Leser überraschen, dass schon vor 150 Jahren die Forderung nach einem "Luther des Islams" erhoben wurde und die Auseinandersetzung mit dem Christentum dazu führte, dass einige der arabischen Universalgelehrten des 19. Jahrhunderts zwischen östlichem Christentum, Protestantismus und Islam hin und her konvertierten.
Ein Drittel des Buches nimmt die lesenswerte Einleitung der Herausgeberin mit zwanzig Kurzbiographien, der wichtigsten Vordenker ein (darunter kaum Frauen). Leider heißt es im Untertitel des Buches 'Religionskritische Positionen um 1900', obwohl gerade die Einleitung die Zeit bis ins 21. Jahrhundert behandelt. Der zweite Teil des Buches stellt dann vier Originaltexte muslimischer Religionskritiker vor. Zum ersten Mal werden in diesem Band die Texte je zweier Vertreter der Harmonie- sowie der Konfliktthese auf Deutsch vorgelegt und jeweils mit Notizen zur Biographie der Autoren, Entstehungsgeschichte des Werks und seiner Wirkung einleitend kontextualisiert.
Manche Beobachter der Region versuchen, die Notwendigkeit der Beschäftigung mit den vorgestellten Autoren zu entkräften, in dem sie darauf verwiesen, dass Intellektuelle nur allzu häufig marginalisiert, ins Exil gezwungen oder umgebracht – in jedem Fall mundtot gemacht – wurden. Diese Annahme widerlegt der nun vorliegende Band durch die Vielfalt der Debattenbeiträge über zwei Jahrhunderte hinweg.
Die Herausgeberin hat gerade die Bestseller und berühmten Texte um die Wende zum 20. Jahrhundert ausgesucht. Das Streben nach Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Emanzipation der Frau sei ein gemeinsamer Nenner der nahöstlichen Philosophie, schreibt Anke von Kügelgen. Dies entspringt nicht ihrem persönlichen Wunschdenken (und wer die Autorin kennt, weiß, dass sie niemals im Sinne der guten Sache unkritische Positionen gelten lassen würde), sondern wird auf 310 Seiten argumentativ untermauert.
Drei weitere Bände sind in der neuen Reihe pnm für 2017 und 2018 geplant, unter Federführung der aktuell maßgeblichen Wissenschaftler auf diesem Feld: Kata Moser untersucht die disziplinäre Entwicklung der Philosophie in der arabischen Welt. Roman Seidel setzt sich mit der Rezeption deutscher Philosophie im Werk von Mohammed Shabestari auseinander. Und Sarhan Dhouib stellt eine Anthologie zum Thema Toleranz/Intoleranz mit bislang nicht übersetzten Essays von 15 arabischen Intellektuellen zusammen.
Es wäre dem ersten Band zu wünschen gewesen, seine Ware etwas offensiver zu Markte zu tragen. An wenigen Stellen möchte man dem Leser zurufen: Mut zur Lücke! Aber an erster Stelle möchte man ihm zurufen: Lies!
Sonja Hegasy
© Qantara.de 2017
Die Autorin ist stellvertretende Direktorin des Leibniz-Zentrums Moderner Orient in Berlin.
Anke von Kügelgen (Hg.): "Wissenschaft, Philosophie und Religion. Religionskritische Positionen um 1900", Berlin 2017, Klaus Schwarz Verlag, 326 Seiten, ISBN 9783879974801