Weder Germanist, noch Orientalist
Eine schmucklose Seitenstraße im südlichen Stadtzentrum Teherans, nicht weit von der armenischen Botschaft, trägt den Namen eines französischen Wissenschaftlers - "Henry Corbin Street". Läuft man wenige Häuserblocks weiter auf die Enghelab-Straße und besucht eine der zahlreichen Buchhandlungen gegenüber der Universität Teheran, wird einem derselbe Name erneut ins Auge fallen: im Philosophie-Regal, gedruckt auf Buchrücken, prominent platziert neben den Werken iranischer Forscher.
Wohl kein anderer europäischer Iranist und Schiismus-Forscher wird im Iran von heute so respektiert wie der französische Philosoph und Mystiker Henry Corbin (1904-1978). Kein Studium des alten Iran, in dem sein Name nicht auftaucht, keine Forschung zur iranischen Philosophie, die nicht aus seinem Werk schöpft. Corbin durchlief eine traditionell katholische Schulausbildung und studierte anschließend an der Sorbonne Philosophie. Mit dem Studium von Arabisch und Sanskrit begann er im Alter von 22 Jahren seine geistige Reise gen Osten.
Bekanntschaft mit dem Imam der Platonisten
Im Jahr 1929, Corbin war 25, traf der junge Orientalist in Paris auf den Islam-Forscher Louis Massignon - eine Begegnung, die sein Leben verändern sollte. Massignon, ein katholischer Geistlicher, der besonders für seine Erforschung des islamischen Mystikers Mansur al-Hallaj berühmt wurde, machte Corbin mit dem iranischen Sufi-Philosophen Sahab al-Din Al-Suhrawardi bekannt. Massignon war soeben aus dem Iran zurückgekehrt und händigte Corbin ein mitgebrachtes Manuskript von Suhrawardis Hauptwerk aus, die Hikmat-ul Ishraq.
Eine schicksalsreiche Fügung, die Corbin später als "Inspiration vom Himmel" beschreiben sollte. Den Großteil seines restlichen Lebens widmete Corbin dem Studium des Werkes von Suhrawardi, den er als "Imam der Platonisten von Persien" bezeichnete. Der im 12. Jahrhundert in Persien geborene Suhrawardi ist auch als Shaykh al-Ishraq, oder Meister der Erleuchtungsphilosophie, bekannt. Suhrawardi entwickelte ein komplexes philosophisches System, in dem die gesamte Schöpfung eine Ausströmung des höchsten göttlichen Lichtes ist.
Corbin sah in der Beschäftigung mit Suhrawardi mehr als nur ein akademisches Unterfangen. "Durch mein Zusammentreffen mit Suhrawardi war mein spirituelles Schicksal im Durchgang durch diese Welt besiegelt", offenbarte der französische Forscher später. Neben dem Studium von Platonismus, Zoroastrismus und Islamischer Mystik vertiefte sich Corbin auch in die deutsche theologische Tradition, insbesondere das Erbe Martin Luthers. In den 1930er Jahren veröffentlichte Henry Corbin mehrere Übersetzungen aus Suhrawardis Werken. Gleichzeitig übersetzte Corbin zum ersten Mal Martin Heideggers Hauptwerk "Sein und Zeit" ins Französische. Die beiden Philosophen hatten sich 1931 in Freiburg kennengelernt.
Östliche Geisteswelten verständlich machen
Durch die Weite seines Blickes überschritt Corbin die herkömmlichen Grenzen akademischer Fachgebiete, war sowohl in westlichen, als auch östlichen Denkschulen zuhause. Wie wohl kein zweiter in der Geschichte der Orientalistik konnte er dadurch östliche Geisteswelten im Westen verständlich machen. Dabei halfen ihm tiefreichende Sprachkenntnisse in Griechisch, Latein, Deutsch, Persisch und Arabisch. Corbins Mehrsprachigkeit ermöglichte es ihm, zwischen Kulturen, Religionen und Denktraditionen zu navigieren - und das in einem intellektuellen Format, das heute schwer zu finden ist.
Nach einer Anstellung am Französischen Archäologischen Institut in Istanbul während der Kriegsjahre reiste Corbin 1945 zum ersten Mal in den Iran. Hier fand er nicht nur eine zweite Heimat, sondern auch reichlich Forschungsstoff, denn wenig Substanzielles war in Europa über die iranischen Philosophen bekannt. Corbin betrachtete das alte Persien als Schnittstelle zwischen den östlichen Religionen und dem Westen.
Im heutigen Iran wird Corbins Verdienst darin gesehen, die Denktradition Persiens und die schiitische Philosophie dem Westen zu erklären. Nach Jahrzehnten imperialer Interventionen Europas im Iran, welche die Produktion eines reduktionistischen Iranbildes mit sich brachte, war Corbin ein willkommener kultureller Botschafter.
Konversion zur Schia?
In einem Artikel, erschienen 2012 auf dem staatlichen iranischen Nachrichtenportal "Farhang News", wird Corbin gar mit Gewissheit als Schiit bezeichnet. Der Text, der die Überschrift "Wie wurde ein französischer Katholik zum Schiiten?" trägt, umreißt Corbins Lebensgeschichte und beschreibt das Zusammentreffen von Corbin mit dem schiitischen Universalgelehrten Allamah Tabatabayi, der in Teheran über Jahre hinweg Corbins wichtigster Lehrer und Mentor war. Tabatabayi, auch Autor einer 20-bändigen Koranexegese, reiste einmal in der Woche aus Qom nach Teheran, um seinen französischen Lehrling in schiitischer Philosophie zu unterrichten.
Tabatabayi sah Corbin als von Gott gesandt, konnte er doch mithilfe seines scharfen Intellekts die in Europa herrschenden Missverständnisse über die Schia aus dem Weg räumen. Bisher habe sich das europäische Bild der Schiiten fast ausschließlich aus sunnitischen Quellen genährt, erklärte Tabtabayi einmal.
Der Autor des Artikels von "Farhang News" behauptet, dass Corbin unter dem Eindruck der geistigen Größe Tabatabayis zum Schiitentum übergetreten sei. Ferner sei die Schia in Corbins Augen die einzige Religion gewesen, die ihren ursprünglichen Charakter erhalten konnte - er habe auf Konferenzen in Frankreich sogar für die Schia geworben.
Doch der Artikel sagt wohl mehr über die Vereinnahmung einer Persönlichkeit wie Corbin in der Islamischen Republik von heute aus, als über die biografische Realität. Der Corbin-Forscher Tom Cheetham, Autor von fünf Büchern zu Corbins Lebenswerk, jedenfalls ist sich sicher, dass Corbin trotz seiner spirituellen Verbindung zur Schia kein Muslim gewesen sei. Corbin, so Cheetham, war "weder Christ, Jude, noch Muslim, sondern vielmehr etwas Uraltes und gleichzeitig radikal Neues".
Als Corbin 1976 selbst von einem Journalisten gefragt wurde, wer er angesichts dieses vielseitigen Lebenswerks eigentlich sei, antwortete er in einer Sprache, wie sie zu einem Mystiker und Philosophen zwischen den Kulturen passt: "Ich bin weder Germanist, noch Orientalist, sondern ein Philosoph, der seiner Suche folgt, wo immer die Seele ihn hinführt. Wenn sie mich nach Freiburg, nach Teheran, nach Isfahan geführt hat, so sind dies im Wesentlichen sinnbildliche Städte, sie sind Symbole einer permanenten Reise."
Marian Brehmer
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