Ein Jahr Rückschritt

Der Sturz der Regierung Ghani war nach Meinung von Experten unausweichlich, als die NATO-Truppen im Mai 2021 begannen, sich aus dem vom Krieg verwüsteten Land zurückzuziehen, nachdem Washington im Februar 2020 ein Abkommen mit den Taliban geschlossen hatte. Doch nur wenige hatten erwartet, dass Afghanistan so schnell an die militanten Kräfte fallen würde.
Der Sturz der Regierung Ghani war nach Meinung von Experten unausweichlich, als die NATO-Truppen im Mai 2021 begannen, sich aus dem vom Krieg verwüsteten Land zurückzuziehen, nachdem Washington im Februar 2020 ein Abkommen mit den Taliban geschlossen hatte. Doch nur wenige hatten erwartet, dass Afghanistan so schnell an die militanten Kräfte fallen würde.

Vor einem Jahr haben die Taliban die Regierung von Ashraf Ghani gestürzt und in Afghanistan die Macht übernommen. Heute steht das Land steht vor vielen Herausforderungen, vor denen die Welt die Augen nicht verschließen darf. Von Ahmad Hakimi

Von Ahmad Hakimi

Als die Taliban am 15. August 2021 Kabul eroberten und sie dabei nur auf wenig Widerstand durch die Streitkräfte des damaligen Präsidenten Ashraf Ghani trafen, war die Welt überrascht. Die islamistischen Fundamentalisten hatten es wieder an die Macht geschafft - zwanzig Jahre, nachdem die USA im Jahr 2001 einmarschiert waren und ihr Regime zu Fall gebracht hatten.

Der Sturz der Regierung Ghani war nach Meinung von Experten unausweichlich, als die NATO-Truppen im Mai 2021 begannen, sich aus dem vom Krieg verwüsteten Land zurückzuziehen, nachdem Washington im Februar 2020 ein Abkommen mit den Taliban geschlossen hatte. Doch nur wenige hatten erwartet, dass Afghanistan so schnell an die militanten Kräfte fallen würde. Die Ereignisse hatten nicht nur geopolitische Auswirkungen; sie haben das Leben der einfachen Afghanen seit dem letzten Jahr drastisch verändert - meist zum Schlechteren.

Fortschritte der letzten 20 Jahre in Gefahr

Es ist viel Kritik an den afghanischen Regierungen geübt wurden, die seit dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 mit Unterstützung der USA das Land regierten. Trotzdem hatte das Land in den vergangenen zwei Jahrzehnten in verschiedenen Bereichen Fortschritte gemacht.

Mädchen in einer Grundschule in Afghanistan (Foto: dpa/picture-alliance)
Verrat am afghanischen Volk: Trotz der massiven Kritik an den Präsidenten Hamid Karsai und Ashraf Ghani, die seit dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 mit Unterstützung der USA das Land regierten, hatte Afghanistan in den vergangenen zwei Jahrzehnten Fortschritte gemacht. Es gab unabhängige Medien, die Menschenrechtslage hatte sich verbessert, immer mehr Mädchen gingen zur Schule und auf die Universität und die afghanische Mittelschicht durchlebte eine Zeit relativen Wohlstands. Doch diese Errungenschaften wurden in den vergangenen zwölf Monaten weitgehend zunichte gemacht. Eine inklusive Regierung wurde noch immer nicht gebildet und Mädchen, die älter sind als zwölf Jahre, dürfen heute nicht mehr zur Schule gehen.



Unabhängige Medien blühten unter den ehemaligen Präsidenten Hamid Karsai und Ashraf Ghani auf, die Menschenrechtslage verbesserte sich deutlich, immer mehr Mädchen gingen zur Schule und auf die Universität und die afghanische Mittelschicht durchlebte eine Zeit relativen Wohlstands. Doch diese Errungenschaften wurden in den vergangenen zwölf Monaten weitgehend zunichte gemacht.

Die meisten der Versprechen, die die Taliban 2020 in der Vereinbarung von Doha machten, wurden nicht eingehalten. Eine inklusive Regierung wurde noch immer nicht gebildet, Mädchen, die älter sind als zwölf Jahre, dürfen nicht zur Schule gehen, Frauen dürfen in den meisten Wirtschaftszweigen nicht arbeiten und nur an bestimmten Tagen öffentliche Parks besuchen. Die Wirtschaft Afghanistans befindet sich im freien Fall und die Vereinten Nationen warnen, dass sich eine humanitäre Katastrophe anbahnt.

Seit ihrer Machtübernahme fordern die Taliban von der internationalen Gemeinschaft die Anerkennung als legitime Regierung Afghanistans. Die internationale Anerkennung ist für die Taliban von zentraler Bedeutung, um den möglichen wirtschaftlichen Zusammenbruch des Landes zu verhindern. Millionen von Afghanen sind arbeitslos und ihre Bankkonten sind eingefroren. Viele Menschen veräußern ihr Hab und Gut, um Lebensmittel zu kaufen. Zum ersten Mal herrscht in den Städten eine ähnlich große Ernährungsunsicherheit wie auf dem Land.

Im Januar starteten die Vereinten Nationen den "größten Aufruf" zur humanitären Hilfe, der jemals für ein einzelnes Land lanciert wurde. Es würden 3,9 Milliarden Euro für Afghanistan benötigt, um zu verhindern, dass sich eine der "weltweit am schnellsten eskalierenden humanitären Krisen" noch weiter zuspitze.

Frauen protestieren in Kabul gegen neue Kleidervorschriften der Taliban, Mai 2022 (Foto: AFP)
Hartnäckiger Widerstand: Afghanische Frauen geben nicht auf. Es sind immer noch mindestens fünf Frauenrechtsgruppen aktiv. Andere erheben in den sozialen Medien ihre Stimme gegen das harte Durchgreifen der Taliban, gegen willkürliche Verhaftungen, das gewaltsame Verschwindenlassen von Frauen und nicht zuletzt gegen physische und psychische Folter. Die Frauenrechtlerin Zholia Parsi hat beschlossen, ihre Proteste fortzusetzen, um ihren Kindern eine Zukunft zu geben. "Eine meiner Töchter sollte an der Universität studieren, eine andere sollte jetzt die elfte Klasse besuchen. Wenn ich mir ihre psychische Verfassung ansehe, habe ich keine andere Wahl, als zu protestieren. Ich werde erst Ruhe geben, wenn wir unsere Rechte wieder haben", sagt sie.



Doch die internationale Gemeinschaft zögert, das Geld direkt den Taliban auszuhändigen, da sie fürchtet, dass es stattdessen für den Kauf von Waffen verwendet wird. Aus dem gleichen Grund hat sich Washington bisher geweigert, die Bankguthaben Afghanistans freizugeben.

Um Frauenrechte ist es schlecht bestellt

Laut Vereinten Nationen ist Afghanistan das einzige Land der Welt, in dem Mädchen keine weiterführende Schule besuchen dürfen. Viele Frauen, die zuvor in staatlichen Behörden gearbeitet hatten, sei es auf Ministerebene oder als Büromitarbeiterin, wurden von den Taliban bereits in den ersten Monaten nach der Machtübernahme nach Hause geschickt.

Viele Frauen gingen auf die Straße, um gegen die restriktiven Entscheidungen der Taliban zu protestieren. Die Proteste wurden gewaltsam unterdrückt und viele Frauenrechtlerinnen verhaftet. "Weniger als ein Jahr, nachdem die Taliban die Macht in Afghanistan übernommen haben, wird Millionen von Frauen und Mädchen durch ihre drakonische Politik das Recht auf ein sicheres, freies und erfülltes Leben genommen", erklärte Agnès Callamard, Generalsekretärin der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, im Juli. Doch trotz des Drucks der islamistischen Machthaber versuchen viele afghanische Frauen weiterhin, sich mit ihren Forderungen Gehör zu verschaffen.

Auch wenn schon einige Frauenrechtlerinnen das Land verlassen haben, sind immer noch mindestens fünf Frauenrechtsgruppen aktiv. Einige von ihnen erheben in den sozialen Medien ihre Stimme gegen das harte Durchgreifen der Taliban, gegen willkürliche Verhaftungen, das gewaltsame Verschwindenlassen von Frauen und nicht zuletzt gegen physische und psychische Folter.



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Die Frauenrechtlerin Zholia Parsi erzählt der Deutschen Welle, dass sie beschlossen habe, ihre Proteste fortzusetzen, um ihren Kindern eine Zukunft zu geben. "Eine meiner Töchter sollte an der Universität studieren, eine andere sollte jetzt die elfte Klasse besuchen. Wenn ich mir ihre psychische Verfassung ansehe, habe ich keine andere Wahl, als zu protestieren. Ich werde erst Ruhe geben, wenn wir unsere Rechte wieder haben", sagt sie.

Freie Medien in Gefahr

Unabhängige Medien werden von den Taliban als Feind betrachtet. Bei den Medien hatte es zwischen den Jahren 2001 und 2020 große Fortschritte gegeben, doch nun befinden sich tausende afghanischer Journalisten entweder im Exil oder haben ihre Arbeit verloren. Laut Reporter ohne Grenzen wurden 43 Prozent der afghanischen Medienunternehmen in den letzten drei Monaten geschlossen. "Von den 10.780 Menschen, die Anfang August 2021 in afghanischen Nachrichtenredaktionen tätig waren (davon 8290 Männer und 2490 Frauen), arbeiteten im Dezember nur noch 4360 (3950 Männer und 410 Frauen), also nur noch 4 von 10 Journalisten", so die Menschenrechtsorganisation.

Mohammad Zia Bumia, Leiter der South Asian Free Media Association for Afghanistan, erklärt gegenüber der Deutschen Welle, dass viele Medienunternehmen nach dem Zusammenbruch der Regierung Ghani ihre Arbeit einstellten und so Hunderte von Journalisten arbeitslos wurden. Auch das harte Durchgreifen der Taliban und die sich verschlechternde Wirtschaftslage seien für den Niedergang der Medienlandschaft verantwortlich. "Die Taliban haben die Medien einer strengen Zensur unterworfen, egal ob es sich um Nachrichten oder Unterhaltung handelt", fügt er hinzu.

Taliban-Kämpfer in der Nähe von Kabul im Jahr 1996 (Foto: picture-alliance)
Rückzugsraum für Dschihadisten? Manchen Beobachtern zufolge ähnelt die derzeitige Situation in Afghanistan auf beunruhigende Weise dem geopolitischen Szenario der späten 1990er Jahre. Die Taliban ergriffen 1996 die Macht, doch die Weltgemeinschaft erkannte damals nicht die möglichen Konsequenzen dieser Entwicklung. Abseits des globalen Rampenlichts - und angesichts eines mangelnden Interesses an afghanischen Angelegenheiten - entwickelt sich das Land wieder zu einer Drehscheibe für lokale und internationale militante Gruppen. Dass sich heute der ermordete Al-Kaida-Chef Aiman al-Sawahiri in Kabul aufhielt, ist nur ein Indiz für die erneut drohende Gefahr.



Journalistinnen haben laut Reporter ohne Grenzen seit der Machtübernahme durch die Taliban am meisten gelitten. "Die Taliban haben schon oft versucht, mich zu verhaften. Sie kamen mehrmals zu unserem Haus. Als sie meine Familie warnten, hatte ich keine andere Wahl, als Afghanistan zu verlassen", berichtet Saleha Ainy, eine afghanische Journalistin, die in den Iran geflohen ist, der Deutschen Welle. Hujatullah Mujadidi, Leiter der Afghanistan Independent Journalists Association, hat die internationale Gemeinschaft aufgefordert, afghanische Journalisten zu unterstützen.

Gefährliche Zeiten stehen bevor

Die Lage ist ernst, doch die internationale Gemeinschaft schenkt der Krise in Afghanistan nur wenig Aufmerksamkeit. Der Ukraine-Konflikt und die Spannungen um Taiwan dominieren das globale Tagesgeschehen. Manchen Beobachtern zufolge ähnelt die derzeitige Situation in Afghanistan auf beunruhigende Weise dem geopolitischen Szenario der späten 1990er Jahre. Die Taliban ergriffen 1996 die Macht, doch die Weltgemeinschaft erkannte damals die möglichen Konsequenzen dieser Entwicklung nicht.

Abseits des globalen Rampenlichts - und angesichts eines mangelnden Interesses an afghanischen Angelegenheiten - entwickelt sich das Land heute wieder zu einer Drehscheibe für lokale und internationale militante Gruppen. Dass sich der ermordete Al-Kaida-Chef Aiman al-Sawahiri in Kabul aufhielt, ist nur ein Indiz für die drohende Gefahr.

"Die Taliban haben Verbindungen zu internationalen Terroristen. Ihre Rückkehr an die Macht hat dschihadistischen Organisationen in der Region neuen Auftrieb gegeben. Während sie sich weiter konsolidieren, werden sich ihre taktischen und strategischen Verbindungen zu den Finanziers und Sponsoren des Terrorismus verfestigen und schließlich den Frieden und die Sicherheit in der Region und über sie hinaus gefährden", befürchtet der ehemalige afghanische Regierungsbeamte Farid Amiri.

Ahmad Hakimi

© Deutsche Welle 2022

Aus dem Englischen adaptiert von Phoenix Hanzo.