Empathie als intellektuelle Übung
Wofür Skandale – in diesem Fall eher ein "Skandälchen“ frei nach Susan Neiman – nicht alles gut sind. Eigentlich gebühre Dani Dayan, einst israelischer Siedlerführer, heute Direktor in Yad Vashem, und den anderen Rechten Dank, hieß Neiman launig-sarkastisch die Gäste im vollen Einsteinforum willkommen. Deren Cancel-Kampagne habe schließlich dazu geführt, an diesem Donnerstagabend (02.02.2023) die geschmähte Debatte hier in Potsdam erleben zu können.
Ein Wink, den das Publikum goutierte, aber für die Leserschaft Erklärungsbedarf hinterlässt. Also kurz zur Vorgeschichte: Die nicht nur in Israel, sondern auch von den Springer-Medien hochgepeitschte Erregung hatte sich an einer ursprünglich im Goethe-Institut Tel Aviv geplanten und von der Rosa-Luxemburg-Stiftung unterstützten Veranstaltung über Holocaust, Nakba und die deutsche Erinnerungskultur festgemacht.
Mit Verweis auf den Termin am 9. November, den Jahrestag der Reichsprogromnacht, wurde den Beteiligten zunächst Geschichtsvergessenheit unterstellt. Nach terminlicher Verlegung empörte man sich alsbald, Holocaust und Nakba, die palästinensische Katastrophe von Flucht und Vertreibung, hätten im gleichen Satz nichts zu suchen. In Jerusalem und Berlin türmte sich politischer Druck auf, der schließlich die ersatzlose Absage der Veranstaltung nach sich zog.
Woraufhin Susan Neiman, Direktorin des Einsteinforums, beschloss, die in Tel Aviv verbannten Diskutanten – neben der Autorin Charlotte Wiedemann ("Den Schmerz der Anderen begreifen“) Amos Goldberg, Historiker der Hebräischen Universität in Jerusalem, sowie Bashir Bashir, Politikwissenschafter an der Open University in Israel, – nach Potsdam einzuladen. Sie, Neiman, verstehe das als "Test für die Meinungsfreiheit“, ganz im Sinne des legendären Namensgebers ihres Instituts.
Keine Gleichsetzung von Holocaust und Nakba
Aber eines stellte sie, die jüdische Amerikanerin, lieber doch auf Deutsch vorab der in Englisch geführten Debatte klar: "Es geht nicht um eine Gleichsetzung von Holocaust und Nakba“ – sondern darum, wie das Eine das Andere bedingt habe.
Das Eis ist spiegelglatt bei diesem Thema und manche warten geradezu auf Ausrutscher. Denn beide Geschehen handeln von Katastrophen, die das Kernstück des jeweiligen nationalen Narrativs ausmachen, aber gegenseitig weithin ausgeblendet werden. So unterschiedlich ihre Dimensionen auch sind – hier die Massenvernichtung von sechs Millionen Juden, dort eine teils gewaltsame ethnische Säuberung von über 700 000 palästinensischen Alteingesessenen.
Wiedemann schlägt zunächst einen weiten Bogen, zieht Parallelen zum Postkolonialismus, hinterfragt – immer auch selbstkritisch – warum uns Deutschen etwa der jüdische Widerstand im Ghetto von Warschau so viel näher geht als der Maji Maji-Aufstand gegen koloniale deutsche Unterdrückung in Ostafrika vierzig Jahre zuvor, bei dem etwa 200 000 Afrikaner gewaltsam umkamen. Wieweit spielt Hautfarbe eine Rolle, dass wir uns mit den einen leichter identifizieren als mit den anderen?
Nein, ihr gehe es nicht um weniger Holocaust-Gedenken zugunsten anderer Opfergruppen. Auch habe Israel zurecht einen besonderen Status für Deutschland. Aber diese Verbindung habe etwas Tragisches, solange Israel wiederkehrend internationales Recht verletze. Anzunehmen, dass Israel wegen der Shoah ein singuläres Recht auf Straffreiheit besitze, das, so Wiedemann, "ist ein schreckliches Missverständnis“.
Die Geschichte ist nun mal komplex. Weder lasse sich Al Nakba als Kollateralschaden bei der Gründung des jüdischen Staates abtun, noch der Zionismus, der ja auch Befreiungsbewegung war, auf einen Siedler-Kolonialismus reduzieren.
Die Verbindung zweier Katastrophen
Die von Wiedemann geforderte Empathie als intellektuelle Übung, "sich für einen Moment in die Schuhe von jemand anderem zu versetzen“, teilen Goldberg und Bashir. Es komme aber nicht nur auf das Begreifen von fremdem Schmerz an, so Goldberg, sondern genauso auf Rechte und Verantwortung. Oder, wie es Bashir, Palästinenser mit israelischem Pass, ausdrückt, "auf den Blick nach vorne“ – wichtig sei eine "binationale Lösung (des Konflikts, Anm. der Red.), die auf den Prinzipien von Gleichheit, Freiheit und sozialer Gerechtigkeit“ fuße.
Davon sind Israel, das demnächst sein 75-jähriges Jubiläum feiert, und Palästina, das dieses Jubiläum mit dem Datum Al Nakba verbindet, weiter entfernt denn je. Dabei galt in den frühen Jahren die Verbindung zwischen beiden Ereignissen als offenkundig.
Goldberg berichtet von Holocaust-Überlebenden, denen nach Ankunft in Israel arabische Häuser zugewiesen wurden, auf denen noch das Essen auf dem Tisch stand. Einige verstanden sofort und lehnten den Einzug ab. Heute drohen in Israel bereits Nichtregierungsorganisationen, die nur an Al Nakba erinnern, finanzielle Nachteile.
Und auch die israelfreundlichen Deutschen meiden das Thema. Ein Grund mehr, so Wiedemann, den hier lebenden 200 000 Palästinenserinnen und Palästinensern Gelegenheit zu geben, die Geschichte aus ihrer Sicht zu erzählen. Es wäre an der Zeit.
© Qantara.de 2023