Nachhilfe für die Erinnerungsweltmeister 

Es ist das Buch zu den aktuellen Kontroversen über Erinnerungskultur. Charlotte Wiedemann zeigt, wie es möglich ist, gleichzeitig über die Schoa und die Verbrechen der Kolonialmächte zu schreiben, ohne zu verharmlosen. Schonungslos deckt sie die zahlreichen blinden Flecken in unserer Erinnerungskultur auf. 

Von René Wildangel

Im Geschrei der letzten Wochen – denn Debatten waren es kaum rund um den Antisemitismusskandal auf der Documenta  – hätte man sich oft ein wenig Differenzierung gewünscht. Statt dessen gab es Realitätsverweigerung bei den Organisatoren bis hin zu Rufmordkampagnen gegen die Journalistin Emily Dische-Becker sowie die beteiligten palästinensischen Künstler. "We need to talk“ sollte eine Gesprächsreihe zu Antisemitismus und Erinnerungskultur heißen, die aber angesichts von Kontroversen um die Besetzung der Podien abgesagt wurde. Das Reden fällt schwer dieser Tage, die Fronten sind verhärtet. 

Charlotte Wiedemann ist mit ihrem Werk ein sehr überzeugendes, persönliches Buch geglückt, dem genau diese Differenzierung gelingt: mit einem klugen und umfassenden Gang durch all die Themen, die in Deutschland 2022 selten ohne Polemik diskutiert werden. Wiedemann geht es dabei gerade nicht um einen zugespitzten und einseitig argumentierenden Debattenbeitrag; ihr Buch ist das Ergebnis einer aufrichtigen, jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit jenen Themen, die im Zentrum aktueller Kontroversen stehen: koloniale Verbrechen und Genozid, Rassismus, Nationalsozialismus und Schoa und wie diese Erfahrungen und die Erinnerung daran in Beziehung zueinander stehen.  

Dabei geht Wiedemann zunächst von sich selbst, von ihrer eigenen Erfahrungswelt aus; als Deutsche, nur ein knappes Jahrzehnt nach der Schoa geboren, die zugleich als Korrespondentin von außen auf ihr Land und seine Geschichte geblickt hat, viele Jahre lang. Da, wo andere nur Widersprüche sehen, nur entweder oder gelten lassen wollen, sieht Wiedemann vielfache historische Verschränkungen: Sie zeigt die direkten und die indirekten Verknüpfungen des Grauens der nationalsozialistischen Ermordung der europäischen Juden mit den europäischen kolonialen Verbrechen.

Cover von Charlotte Wiedemann "Den Schmerz der Anderen begreifen" erschienen 2022 bei Propyläen; Quelle: Verlag
Wiedemann geht es in ihrem Buch gerade nicht um einen zugespitzten und einseitig argumentierenden Debattenbeitrag; ihr Buch ist das Ergebnis einer aufrichtigen, jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit jenen Themen, die im Zentrum aktueller Kontroversen stehen: koloniale Verbrechen und Genozid, Rassismus, Nationalsozialismus und Schoa und wie diese Erfahrungen und die Erinnerung daran in Beziehung zueinander stehen.  

Der Zweite Weltkrieg wird auf europäische Schauplätze reduziert

Ein Tabu? Wenig ist platter als die Unterstellung, dass jene, die, wie Wiedemann, endlich auch angemessen an die europäischen und auch deutschen Kolonialverbrechen erinnern wollen, deshalb das Gedenken an die Schoa schmälern oder ihre Einzigartigkeit in Frage stellen. Genau das Gegenteil ist bei Charlotte Wiedemann richtig. 

Die unmittelbare Beziehung zwischen europäischem Kolonialismus und dem, was wir leichthin den Zweiten Weltkrieg nennen, obwohl wir ihn meist auf seine europäischen Schauplätze reduzieren, erblickt Wiedemann symbolisch auf einem Familienfoto in Mali.

Es zeigt schwarze Soldaten im Schnee, die in der französischen Armee gegen Hitler kämpften und zur Befreiung vom Nationalsozialismus beitrugen. Als die Wehrmacht in Nordfrankreich einfiel, unterstreicht Wiedemann, stellten Soldaten aus dem Maghreb fast 40 Prozent der französischen Infantrie. Von ihnen gerieten Tausende in deutsche Kriegsgefangenschaft, wo sie rassistisch erniedrigt, zu Zwangsarbeit herangezogen und vielfach ermordet wurden. 

Als die Alliierten im August 1944 in Südfrankreich landen, war die "Armée d'Afrique“ bestehend aus 120.000 Kolonialsoldaten aus Mali, Senegal und dem Maghreb ebenfalls ein zentraler Bestandteil. Aber aus der Erinnerung an den alliierten Sieg wurden sie später systematisch entfernt – beim Triumphmarsch in Paris, so Wiedemann, sollten keine Schwarzen sichtbar sein.

Auch auf Seiten der USA waren schwarze GIs im Einsatz, die nun Europa befreiten, aber angesichts der noch immer praktizierten menschenverachtenden "Rassentrennung“ in ihrer Heimat noch gar nicht im Besitz eigener Bürgerrechte waren. 

Im November 1944 kommt es in Thiaroy (Senegal) zu einem Massaker französischer Truppen an ehemaligen westafrikanischen Kriegsgefangenen, die es gewagt hatten, gegen die schlechte Behandlung durch die französische Kolonialmacht zu protestieren. Dort, wo einst das heute vergessene Massaker an Kolonialsoldaten stattfand, steigen heute ihre Nachfahren in Boote und sind dem Ertrinken ausgeliefert. "Gibt es eine schmerzlichere Vorstellung als diese?“, fragt Wiedemann.  

Es sind diese Perspektiven, die ihr Buch so enorm stark machen. In der Ukraine wird heute selbstverständlich anerkannt, dass die "Freiheit des Westens“ verteidigt wird -  aber Afrikaner, die dafür im Zweiten Weltkrieg ihr Leben gegeben haben, erfuhren bis heute kaum eine solche Anerkennung.

Wir meinen, alles über den Zweiten Weltkrieg zu wissen, schreibt Wiedemann – und vielleicht verstelle genau das den Blick auf die Vielschichtigkeit der Geschichte. 

Überall blinde Flecken. Die Verfolgung der jüdischen Gemeinden im Maghreb unter deutscher Besatzung, aber auch unter französischer und italienischer Kontrolle, ist kein Teil der Erinnerung an die Schoa. Genauso wenig wie die erst spät beachteten systematisch vernichteten über fünf Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen oder der Völkermord an den Sinti und Roma. In den letzten Jahren sind immerhin viel mehr Forschungsarbeiten zu diesen vergessenen Erfahrungen aus den Kriegen des 20. Jahrhunderts erschienen. Aber in einer breiteren Öffentlichkeit sind diese Perspektiven noch nicht angekommen.  

Auch Erinnerungskultur ist eine Frage der Perspektive

Wiedemann sieht einen großen Widerspruch zwischen der deutschen Selbstzufriedenheit in der Erinnerungskultur einerseits und dem anhaltendem Schweigen in den Familien, den vielen blinden Flecken im Gedenken und in der Unfähigkeit, die Realität einer Einwanderungsgesellschaft angemessen in den Gedenkräumen zu adaptieren.

Die Autorin Charlotte Wiedemann
Die Autorin Charlotte Wiedemann hat das Buch zu den aktuell geführten Debatten über die Erinnerungskultur geschrieben. Sie moniert, unsere Erinnerung sei von einer Hierarchisierung der Opfer gekennzeichnet. Das verhindere nicht nur Empathie, sondern hat auch fatale politische Konsequenzen und führt etwa zur anhaltenden Weigerung, Verantwortung für Kolonialverbrechen zu übernehmen. "Ihr Buch ist gefüllt mit persönlichen Begegnungen an unterschiedlichen Orten in der Welt, lehrreichen Perspektivwechseln und zahllosen Denkanstößen im Irrgarten der Erinnerungskulturen“, schreibt René Wildangel.

Wer ist wir, wer sind "die Anderen“? Auch Erinnerungskultur liegt im Auge des Betrachters, ist eine Frage der Perspektive, des Standorts. In Deutschland, in dem nach dem Krieg vor allem verdrängt wird und Täter neue Karrieren beginnen und alte fortsetzen können, entwickelt sich schließlich eine Gedenkkultur, welche die Singularität der Schoa ins Zentrum stellt: Das ist unsere Erfahrung eines zentralen Zivilisationsbruches.  

Aber es war nicht der einzige Zivilsationsbruch. Immer wieder nimmt Wiedemann andere Perspektive ein. Anders als Deutsche haben zum Beispiel Algerierinnen und Algerier einen ganz anderen Blick auf die Geschichte: Sie müssen bis heute mit den Folgen der kolonialen Vernichtungspolitik Frankreichs leben, ohne Anerkennung, ohne Entschädigung.

Und dass in weiten Teilen Ostasiens, das unter der brutalen Besatzungspolitik Japans mit Millionen Toten gelitten hat, der Zweite Weltkrieg und auch die Schoa anders erinnert werden als in Europa, sollte eigentlich selbstverständlich sein.

Wiedemann zeigt auch, dass die nach 1945 beschworene neue universale Ethik, die Nürnberger Prozesse, die Charta der Vereinten Nationen, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zunächst keineswegs universal gilt.

Denn gerade in den ersten Nachkriegsjahren wird im Rahmen der blutigen Kolonialkriege an mehreren Schauplätzen dieses Recht auf grauenhafteste Weise verletzt: im britisch besetzen Malaysia, im niederländisch besetzten Indonesien und im französisch besetzten Algerien werden genau jene "Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ massenhaft verübt, die eigentlich verhindert werden sollen. Das neu entwickelte Völkerrecht fand außerhalb Europas keine Anwendung, und die Liste der Beispiele für Doppelstandards ist auch heute noch lang.  

Unser Blick auf die Massaker und Genozide in der Welt ist oft ein reiner Nachrichtenblick, der von Abstumpfung geprägt ist, wie die Journalistin Wiedemann weiß. In der Ökonomie der Empathie stehen die weit entfernten Opfer niedrig im Kurs; der Genozid in Kambodscha zum Beispiel bleibt, so Wiedemann, ein „fernes, unverständliches, asiatisches“ Verbrechen.

Unsere Erinnerungskultur bleibt gekennzeichnet von einer Hierarchisierung der Opfer, die nicht nur Empathie verhindert, sondern auch fatale politische Konsequenzen hat: die anhaltende Weigerung, Verantwortung für Kolonialverbrechen zu übernehmen; eine Politik, die Flüchtlinge insbesondere aus Afrika an der Migration nach Europa hindern will; eine Anti-Terrorpolitik, die in Mali nur „strategisch bedeutsame Tote“, nämlich Opfer von Terroranschlägen wahrnimmt, aber in Afghanistan die Opfer von US-Drohnenangriffen höchstens als Kollateralschäden verzeichnet. 

In ihrem Buch widmet sich Wiedemann auch dem wohl derzeit kontroversesten Thema ausführlich: Dem deutschen Umgang mit Israel Palästina und BDS. Obwohl mittlerweile viele, wie sie basierend auf ihrem Buchkapitel in der taz schreibt, einen „Bannkreis“ um alles ziehen, bei dem der Begriff Palästina vorkomme: „Vorsicht, Antisemitismus“.

 

 

Palästinenser stehen unter Generalverdacht

Dabei wäre es für die Autorin wichtig, dass im Rahmen einer inklusiven Erinnerungskultur auch jene 200.000 Palästinenser in Deutschland die Möglichkeit haben sollten, ihre Stimme und Erfahrungen einzubringen. Sie stehen angesichts deutscher Befindlichkeiten unter Generalverdacht, obwohl sie anders als viele deutsche Familien nichts mit der Schuld an der Schoa zu tun haben (auch nicht wenn Ex-Premier Netanyahu einst versuchte, den Mufti von Jerusalem, der mit den Nazis zu kollaborierte, auf abstruse Weise zu einem zentralen Akteur der Judenvernichtung zu machen).  

Wiedemann macht deutlich, dass Schoa und Nakba, die Vertreibung der Palästinenser 1948, völlig unterschiedliche Dimensionen haben; anstelle von schiefen Vergleichen wirbt sie für ein inklusives Erinnern und In-Beziehung-Setzen. Denn auch diese beiden Erfahrungen sind historisch verbunden. Und die Entrechtung durch die Nakba hält noch immer an; nicht zuletzt viele Israelis und Jüdinnen und Juden weltweit setzen sich dagegen ein und müssen verstärkt Diskreditierung und Angriffe erleben – inklusive Belehrungen von deutschen Gralshütern der Erinnerungskultur.  

Charlotte Wiedemann legt immer wieder den Finger in die Wunde, zeigt die Hierarchisierungen und die Exklusivitäten in "unserer“ Erinnerungskultur – und nimmt sich selbst dabei nie aus. Wiedemann ist nie belehrend oder besserwisserisch, sondern selbst auf der Suche. Neben Antworten sammelt sie Fragen. Ihr Buch ist gefüllt mit persönlichen Begegnungen an unterschiedlichen Orten in der Welt, lehrreichen Perspektivwechseln, und zahllosen Denkanstößen im Irrgarten der Erinnerungskulturen. Sie will "unsere Sinne und unser Urteilsvermögen schärfen und unsere Empathiefähigkeit erweitern.“ Das ist ihr auf herausragende Art und Weise gelungen. 

René Wildangel

© Qantara.de 2022