Wie "Gastarbeiter" Deutschland zum Einwanderungsland machten
Wer waren die Männer und Frauen, die ihre Heimatländer verließen, Wirtschaftswunder-Westdeutschland mit aufbauten - und dafür viel zu lange viel zu wenig gewürdigt wurden? Dieser Frage hat sich der Fotograf Mirko Müller gewidmet. Über 100 Porträts ehemaliger "Gastarbeiter", die von 1955 an als Arbeitsmigranten in die Bundesrepublik gekommen waren, hat er zwischen 2018 und 2021 gemacht, Gegenstände aus ihrem Leben gesammelt und ihre Geschichten aufgeschrieben. Vieles davon ist jetzt im Rahmen der Ausstellung "Vom Kommen, Gehen und Bleiben" zu sehen, die das Zentrum für Internationale Kulturelle Bildung am Goethe-Institut Mannheim zusammengestellt hat.
Überlebensgroß stehen 18 Foto-Porträts an zentralen Orten in der südwestdeutschen Industriestadt, in der heute über 170 Nationen zusammenleben. Sowohl per QR-Code und Mobiltelefon als auch im Goethe-Institut selbst können die Besucher zu Videointerviews mit den Protagonisten gelangen. "Es geht darum, die Menschen, Lebensgeschichten und Einzelschicksale hinter dem anonymisierenden Begriff "Gastarbeiter“ sichtbar zu machen", sagt die Projektleiterin Bonka von Bredow der Deutschen Welle. Denn den einen "Gastarbeiter“, das zeigt die Ausstellung deutlich, gibt es nicht.
Der Begriff "Gastarbeiter“ beschreibt nicht nur die Erwartung der westdeutschen Gesellschaft der 1950er, 60er, 70er und 80er Jahre, dass die Arbeitsmigranten nach einer gewissen Zeit wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren - die allermeisten "Gastarbeiterinnen" und "Gastarbeiter" hatten dieselbe Perspektive. Dass viele dennoch blieben, ihre Familien nachholten und so zu Vorreitern des modernen Einwanderungslandes Bundesrepublik Deutschland wurden, hatten die wenigsten geplant, als die Bundesregierung 1955 das erste Anwerbeabkommen mit Italien abschloss.
Bis dahin hatten Flüchtlinge aus dem kommunistisch beherrschten Osten Deutschlands, der DDR, den Arbeitskräftehunger der bundesdeutschen Industrie gestillt. Doch im Verlauf der 1950er Jahre ließ der Strom Richtung Westen mehr und mehr nach, mit dem Mauerbau 1961 brach er ganz ab. Die dadurch entstandenen Lücken auf dem Arbeitsmarkt füllten unter andrem zwei Millionen italienische Arbeitsmigranten.
Vom Landarbeiter zum Betriebsrat
Einer von ihnen war der junge Lorenzo Annese, ein Landarbeiter aus dem süditalienischen Alberobello. 1958 reiste er nach Gesundheitschecks in Bari und Verona mit dem Zug über München nach Bokensdorf bei Wolfsburg. Dort sollte er zusammen mit seinem Bruder, der bereits in Deutschland war, auf einem Bauernhof arbeiten. Die beiden wurden in einem Dachzimmer mit undichter Decke, ohne Toilette und fließendes Wasser untergebracht - prekäre Lebensbedingungen, auch das verdeutlicht die Ausstellung, gehörten für viele "Gastarbeiter“ zum Alltag. Trotzdem erinnert sich Annese gern an seinen Anfang in der Bundesrepublik - unter anderem, weil er schon am zweiten Tag die Krankenschwester kennenlernte, die er neun Jahre später heiratete.
Um der Arbeit auf dem Dorf zu entkommen, machte sich der Landarbeiter auf die Suche nach einem neuen Job. "Mein Ziel war es, bei Volkswagen in Wolfsburg anzufangen. Ich hatte mich oft beworben, erhielt aber immer Absagen. Dann griff ich zu einem Trick: Ich ging 1961 als Besucher zu einer Werksführung. Während des Rundgangs setzte ich mich von der Gruppe ab und ging zur Personalabteilung. Zufällig kam der Abteilungsleiter um die Ecke. Ich erklärte ihm meine Situation, da sagte er einfach zu mir, dass ich sofort anfangen könne", erzählt Annese.
Ein ambivalenter Lebensentwurf
Vier Jahre später wurde er in den Betriebsrat gewählt. Dort blieb er bis 1993. "Es war eine schwierige Arbeit, vor allem aufgrund der vielen Paragrafen und der Bürokratie. Aber ich habe mich durchgebissen, weil ich anderen Menschen helfen wollte. Ich weiß aus meiner Vergangenheit, wie es ist, keinen Ansprechpartner zu haben - dieses Gefühl will ich niemandem zumuten."
"Kommen, Gehen und Bleiben - das drückt einen ambivalenten Lebensentwurf vieler "Gastarbeiter“ aus, der meistens nicht damit verbunden war, in Deutschland zu bleiben", so der Fotograf Mirko Müller. Die "Gastarbeiter“ kamen nicht nur, viele gingen auch wieder. Bis zum "Anwerbestopp", der am 23. November 1973 infolge der Ölkrise in Kraft trat, waren rund 500.000 der bis dahin insgesamt 867.000 türkischen Arbeitsmigranten in ihr Herkunftsland zurückgekehrt. Der Gedanke ans Gehen war ein ständiger Begleiter vieler Arbeitsmigranten.
"Ich wollte immer zurückkehren"
So auch bei der Spanierin Carmen Morante. Mit 22 folgte die Frau aus gutem Hause ihrem Mann, einem einfachen Schneider, 1964 nach Deutschland. "Nach zwei Jahren kam ich dort langsam an. Wir hatten uns arrangiert, wollten aber nur so lange bleiben, bis wir genug Geld zusammen hatten, um uns ein Haus in Grenada zu kaufen. Aber dann gingen wir doch nicht. Ich wollte immer zurückkehren, Deutschland ist einfach nicht meine Sache", so Morante.
"Ich habe mich eigentlich nie dafür entschieden, nach Deutschland zu gehen", sagt Hizir Oymak, der 1972 ankam. "Aber die Dorfgemeinschaft tat sich zusammen und entschied, mich dorthin zu schicken. Damals war ich 15 oder 16 Jahre alt. Warum ich mich entschieden habe, hier zu bleiben? Wenn ich in die Türkei zurückgekehrt wäre, hätten mich sicher alle gefragt, ob ich rausgeschmissen worden bin", so Oymak. Seine Geschichte steht repräsentativ für die vieler anderer "Gastarbeiter", deren Kommen, Gehen und Bleiben vom Druck und den Erwartungen von Freunden und Familie beeinflusst wurden.
Heimat mal zwei
Für Menschen wie Hizir Oymak war das Bleiben in Deutschland eng verbunden mit ihrem Begriff von Heimat: "Ich habe mal mit unserem Mannheimer Oberbürgermeister über das Thema geredet. Ich sagte ihm, dass unsere Herzen zweimal schlagen: Wenn wir in Deutschland sind, schlagen sie für Deutschland, und wenn wir an die Türkei denken, dann schlagen sie für die Türkei. Ich sage es ehrlich, ich würde keines der beiden Länder aufgeben wollen. Für mich sind Deutschland und die Türkei beide meine Heimat."
Zweimal Heimat, zwei Herzen - dieses Lebensgefühl findet sich in vielen Selbstbeschreibungen der von Müller porträtierten "Gastarbeiter“. "Wir müssen lernen, dass es nicht nur darum geht, der Arbeit dieser Menschen Tribut zu zollen, sondern darum, sie als Teil unserer Gesellschaft zu begreifen. Ohne sie wären Wiederaufbau und Wirtschaftswunder nicht möglich gewesen. Und anders als populistische und rassistische Stimmen glauben machen wollen, ist ihre Identifikation mit Deutschland sehr groß", fasst Projektleiterin Bonka von Bredow zusammen.
Migrationshintergrund immer wieder Thema
Nicht nur in Hizir Oymaks Brust schlagen zwei Herzen. Auch Lorenzo Annese sagt: "Fragt man mich nach meiner Heimat, dann bin ich hin- und hergerissen: Mir fehlt es in Deutschland an nichts Materiellem, dennoch vermisse ich manchmal die Wärme. Die Menschen sind hier einfach nicht ganz so offenherzig und nahbar wie in Italien. Ab und zu wünsche ich mir, dass die Leute in Deutschland etwas mehr aufeinander zugehen würden. Aber trotz allem: Von Zurückgehen nach Italien kann keine Rede sein."
Und auch Ljubica Mitrovic, die mit 18 ihrem Mann aus Serbien, damals eine Teilrepublik Jugoslawiens, nach Westdeutschland folgte, sieht das so: "Mittlerweile ist dieses Land meine Heimat geworden. Aber auch Serbien ist es nach wie vor. Ich bin glücklich darüber, zwei Heimaten zu besitzen. Ich muss den Deutschen sehr hoch anrechnen, dass sie jedem eine faire Chance geben. Wer sich hier einbringen will, der schafft das auch. Ich finde es nur manchmal schade, dass mein Migrationshintergrund immer wieder Thema ist. Es hört nie auf. Der Name verrät mich, sozusagen."
Christopher Nehring
© Deutsche Welle 2022
Die Ausstellung "Vom Kommen, Gehen und Bleiben" in Mannheim läuft noch bis 31. März 2022.