Der Ansturm der Armen
Die Zahlen sind oft ungenau, es gibt ohnehin nur Schätzungen. Relevant sind jedoch die Steigerungsraten: In ganz Afrika kann man es beobachten, überall sind junge Menschen auf dem Weg nach Norden und Süden.
Für hunderttausende Menschen aus Simbabwe und Mosambik, Malawi und Sambia ist vor allem Südafrika das Ziel. Warum ist das Land am Kap der Guten Hoffnung das einzige Land, das für Millionen Schwarzafrikaner eine Perspektive darstellt? Weil es über eine große, tragfähige und profitträchtige Industrie verfügt – etwas, was die übrigen 52 Staaten Afrikas nicht haben.
Flüchtlingstreck gen Norden
Die anderen Millionen afrikanischen Flüchtlinge ziehen durch die Wüsten und Savannensteppen nach Norden. Die Wege wechseln – je nachdem, wo Polizeipatrouillen oder Sperrriegel ein Weiterkommen unmöglich machen. Doch lässt sich nicht die gesamte nordwestafrikanische Küste absperren.
Deshalb werden wir uns wohl daran gewöhnen müssen, immer wieder von neuen Namen kleiner oder großer Küstenstädte zu erfahren, in denen sich diese "Glückssucher" sammeln, die ihre Flucht als Chance begreifen.
Selbst wenn ihre Flucht, der lange Marsch nach Europa, jahrelang dauert, dürfen sie oft nicht zurückkommen. Zumal dann nicht, wenn ihnen für ihre Reise von der Familie oder der Dorfgemeinschaft Geld gegeben wurde.
Die Flucht vieler junger Menschen aus den subsaharischen Ländern in Richtung Norden ist ungebremst. Allein 2,5 Millionen sollen sich derzeit als potentielle Übersee-Migranten in den vier nordafrikanischen Ländern Marokko, Libyen, Algerien und Tunesien aufhalten.
Das aber hält Europa nicht aus: Es kann nicht einfach Hunderttausende nicht ausgebildeter Afrikaner aufnehmen, da dies die europäischen Gesellschaften langfristig völlig überfordern würde.
Begrenzte Anreize durch Immigrations-Kontingente
In Deutschland muss dies in beiden ideologischen Lagern realisiert werden, zum einen von den "bedingungslosen Ausländerfreunden" und zum anderen von den fanatisch Xenophoben.
Keine Frage: Die europäischen Staaten müssen sich um diese Menschen kümmern und sie zumindest begrenzt oder auf Zeit aufnehmen. Die beiden wichtigsten Fragen aber lauten: Was tun wir – kurzfristig – mit denen, die an unseren Küsten ankommen? Und wie können wir – mittel- und langfristig – in bestimmten afrikanischen Ländern helfen, damit es "Hoffnungsleuchttürme" auch außerhalb von Südafrika geben wird?
Zunächst müssen Immigrations-Kontingente geschaffen werden. Die Länder Europas nehmen bestimmte Kontingente von Zuwanderern zeitlich befristet auf. Italien hat dies bereits mit einem begrenzten Kontingent von Tunesiern vorgemacht.
Die jungen Arbeitswilligen, die sich an der südlichen Mittelmeerküste aufhalten, müssen Angebote bekommen, wobei sie für die Kosten des Transports jedoch selbst aufkommen müssen. Der Preis sollte 200 bis 500 Euro unter dem Preis für den Schlepper liegen, um diesen das Wasser abzugraben.
Gleichberechtigte Verhandlungen mit einem Land
Auch müsste die Entwicklungspolitik ganz andere Wege gehen, und zwar durch Verhandlungen mit bestimmten afrikanischen Staaten. Wir Deutschen sollten dabei unsere Anstrengungen in der Zusammenarbeit zunächst mit einem Land in Afrika beginnen.
Wir müssen das in zähen Verhandlungen herauszufinden versuchen, nicht kolonial oder patriarchalisch, sondern von gleich zu gleich. Das könnte den Durchbruch und die "kopernikanische Wende" bringen. Junge Menschen würden nicht mehr an die Küste strömen, sondern zum Beispiel nach – Mali!
Man muss sich das Gefälle zwischen Europa, dem Wohlstandsbabel, und Afrika nur einmal plastisch vor Augen führen: 71 Prozent der Afrikaner sind jünger als 25 Jahre. 45,7 Prozent der 750 Millionen Menschen leben von weniger als einem Dollar pro Tag.
Von den 38 Staaten, die der Internationale Währungsfonds als "hoch verschuldete, arme Länder" bezeichnet, liegen 32 auf dem afrikanischen Kontinent. Von 1000 Kindern sterben in diesen Ländern 102 vor ihrem ersten Geburtstag.
Versickerte Finanzhilfen
Wir haben geglaubt, das regeln wir mit unserem Geld ganz schnell. Trotz der insgesamt 1500 Milliarden US-Dollar, die seit 30 Jahren in den Kontinent fließen, hat sich kaum etwas geändert.
Wir müssen unsere Arroganz aufgeben, eine Delegation der eigenen Regierung muss durch einige afrikanische Staaten fahren, nicht um zu werben, sondern um zu prüfen, welche Regierung für uns die hoffnungsträchtige ist.
Erst wenn wir unsere Rolle richtig verstanden haben, können wir manchen der Menschen helfen und langsam die Völkerwanderung stoppen. Unsere Rolle ist nicht die des weißen Patriarchen und Patrons, obwohl viele im Innern immer noch so geeicht sind.
Wir müssen couragierte Mitarbeiter in den Regierungen suchen, die bereit sind, alles dafür zu tun, ihrem Volk zur Freiheit zu verhelfen. Nur dadurch kann Afrika aus dem Sumpf der Misswirtschaft herausgeführt werden.
Rupert Neudeck
© Qantara.de 2006
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