"Unsere Freiheit zählt mehr als eure"
Frau Armstrong, in der englischen Tageszeitung "The Guardian" schrieben Sie vor einiger Zeit, die barbarische Gewalt von ISIS sei zumindest teilweise "die Folge einer westlichen Politik der Verachtung". Würden Sie das heute noch so schreiben?
Karen Armstrong: Ja, auf jeden Fall. Wenn die Anschläge von Paris von Al-Qaida inspiriert waren, dann waren sie sowohl politisch als auch religiös motiviert. In Paris hat man das heilige Symbol moderner, säkularer, westlicher Zivilisation angegriffen: die Meinungsfreiheit. Sie ist ein Ideal der Aufklärung. Es ist essentiell für eine kapitalistische Gesellschaft, dass Menschen frei von Beschränkungen durch die Kirche, eine Klasse oder Gilde sind. In Paris haben die Terroristen gesagt: "Ihr attackiert unser heiliges Symbol (den Propheten Mohammed); dann attackieren wir euer Symbol. Dann werdet Ihr sehen, wie sich das anfühlt."
Aber was hat das mit der Verachtung des Westens für die arabische Welt zu tun?
Armstrong: Der Prophet wurde seit dem Zeitalter der Kreuzzüge im Westen als ein gewalttätiger, epileptischer, lüsterner Scharlatan dargestellt. Dieses verzerrte Bild des Islam entstand zur gleichen Zeit wie der europäische Antisemitismus, der Juden als bösartige, gewalttätige, perverse und mächtige Feinde Europas karikierte. Deshalb war der Angriff auf das Satiremagazin in Teilen ein Ergebnis westlicher Verachtung.
Der Angriff auf den koscheren Supermarkt, der wohl von ISIS unterstützt wurde, richtete sich gegen die westliche Unterstützung für Israel. Hier liegt auch ein Element von Geringschätzung vor: Es gab sehr wenig Proteste gegen die massiven Todesopfer im letzten Gaza-Krieg. Manche Muslime haben den Eindruck, das Leben palästinensischer Frauen, Kinder und älterer Menschen hätte nicht den gleichen Wert wie unseres im Westen.
Wo sehen Sie denn die Wurzeln dieser Verachtung?
Armstrong: Das aufklärerische Ideal der Freiheit war Europäern vorbehalten. Die Gründungsväter der Vereinigen Staaten, die tief von der Aufklärung beeinflusst waren, haben zwar stolz verkündet: "Alle Menschen wurden gleich erschaffen" und hätten ein Recht auf Leben, Freiheit und Besitz. Aber sie hatten keine Skrupel, afrikanische Sklaven zu besitzen und die Indigenen in Amerika vom Land ihrer Vorväter zu vertreiben. John Locke, der Apostel der Toleranz, schrieb, ein Herr hätte das "absolute" Recht über seinen Sklaven, eingeschlossen das Recht, diesen jederzeit umzubringen. Das setzt sich fort: Viele von den Staatsmännern, die in Paris für die Meinungsfreiheit auf den Straßen marschierten, stützen Regime in mehrheitlich islamischen Ländern, die ihren Bürgern grundlegende Freiheiten verweigern. Großbritannien und die USA zum Beispiel unterstützen weiterhin das saudische Regime. Es ist wieder ein Fall von Geringschätzung für die Menschen in der arabischen Welt: Unsere Freiheit zählt mehr als eure.
Aber muss man sich nicht doch auch bestimmte Verse im Koran anschauen, um das Phänomen islamistischer Gewalt zu erklären?
Armstrong: Sollte man nicht, aus dem einfach Grund, weil diese Koranstellen im Laufe der Geschichte keinen Terrorismus angeregt haben. Jedes Reich beruht auf Macht, egal ob es sich um das indische, chinesische, persische, römische, griechische oder britische Imperium handelt. Das gilt auch für das islamische Reich. Bis zum Beginn das Moderne war der Islam deutlich toleranter als das westliche Christentum. Als die Kreuzzügler 1099 Jerusalem eroberten, hat ihr Massaker an den muslimischen und jüdischen Bewohnern der Stadt den Nahen Osten schockiert. Derart ungezügelte Gewaltausbrüche kannte man dort nicht. Trotzdem hat es bis zu einem ernsthaften muslimischen Gegenschlag 50 Jahre gedauert. Es gibt mehr Gewalt in der hebräischen Bibel und im Neuen Testament als im Koran.
Da würden Ihnen aber die christlichen Theologen widersprechen.
Armstrong: Jene Theologen, die reklamieren, dass es keine Passagen im Neuen Testament gibt wie im Koran die sogenannten Skandalverse 2,191-193 haben vielleicht das Buch Offenbarung vergessen. Es ist der bevorzugte Text für christliche Fundamentalisten, die den Kampf um die Endzeit erwarten, wenn die Feinde Gottes vernichtet werden. Sie verstehen diese Texte wortörtlich und zitieren sie viel häufiger als die Bergpredigt. Die Aggression gegen den Feind, die im Koran Sure 2,191ff. gefordert wird, endet mit der Aufforderung: "Hören sie aber auf, hört auch das Kampfgeschehen auf". Für die Feinde Gottes im Buch Offenbarung der Bibel gibt es diesen Ausweg nicht.
Warum spielen die von Ihnen erwähnten Texte dann keine Rolle in den Debatten?
Armstrong: Man kann so argumentieren, dass dieses Buch nicht charakteristisch ist für das Neue Testament als Ganzes – aber das Gleiche kann man natürlich über die sogenannten "Skandalverse" im Koran auch sagen. Selbst Jesus, der seinen Jüngern befahl, ihre Feinde zu lieben und die andere Wange hinzuhalten, wenn sie angegriffen werden, warnte sie gleichzeitig: "Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert" (MT 10,14).
Alle heiligen Schriften enthalten gewalttätige Passagen, die außerhalb ihres Kontextes zitiert und mit übermäßiger Bedeutung versehen, die friedliche Botschaft zerstören, die prinzipiell in allen Glaubensrichtungen enthalten ist.
Halten Sie dann die verbreitete Vorstellung, der Islam sei von Beginn an gewalttätig gewesen, für falsch?
Armstrong: Diese Vorstellung stammt aus der Zeit der Kreuzzüge, als westliche Christen die Muslime im Nahen Osten angriffen. Sie kann auf ein verborgenes Schuldgefühl zurückgehen. Jesus hat ja seinen Jüngern befohlen, ihre Feinde zu lieben, nicht sie auszulöschen. Die Überzeugung, der Islam wäre immer eine Religion des Schwertes gewesen, wurde von christlichen Mönchen im 12. Jahrhundert verbreitet – sie haben ihre Sorge über ihr eigenes Verhalten auf ihre Opfer projiziert.
Aber wie war das bei der Entstehung des islamischen Reichs? War da etwa keine Gewalt im Spiel?
Armstrong: In der Frühzeit des Islam, als die Muslime noch eine bedrängte Minderheit in Mekka waren, hat der Koran ihnen verboten zurückzuschlagen. Aber als sie durch Verfolgung gezwungen waren, nach Medina zu fliehen und dort einen Staat gründeten, mussten die Muslime – wie andere Staatsgründer auch – kämpfen und der Koran befürwortet das. Aber Militärhistoriker sagen, dass Mohammed und die ersten Kalifen ziemlich einzigartig darin waren, ihr Reich mehr durch Diplomatie als mit Gewalt aufzubauen.
Ein weiterer Unterschied zwischen Orient und Okzident ist das Fehlen einer Trennung zwischen Staat und Religion in der arabischen Welt. Warum hat der Säkularismus dort einen so schweren Stand?
Armstrong: Der Säkularismus, der im Westen im Laufe des 18. Jahrhunderts entstand, war eine radikale Innovation. Vor der Moderne durchdrang Religion alle Lebensbereiche, weil Menschen ihr Leben als sinnvoll erleben wollten. Die Idee von "Religion" als einem privaten Streben, das von anderen Aktivitäten getrennt ist, war im vormodernen Europa genauso unbekannt wie im Rest der Welt. Keine andere Kultur hat etwas Vergleichbares. Wörter, die wir mit Religion übersetzen (wie das Arabische din oder dharma im Sanskrit), beziehen sich auf einen ganzen Lebensstil. Religion aus der Politik zu entfernen, wäre so unmöglich gewesen, wie das Entfernen des Gin aus einem Cocktail. Nicht weil sie zu dumm gewesen wären, zwei unterschiedliche Sphären voneinander zu unterscheiden, sondern weil Fragen wie das Schicksal der Armen, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder Gerechtigkeit Fragen von heiliger Wichtigkeit waren.
Ist es zutreffend, dass im islamisch geprägten Raum Säkularismus in erster Linie als westlicher Import betrachtet wird?
Armstrong: Er ist ein westlicher Import. Säkularismus hat sich aus unserer europäischen Dynamik entwickelt und nicht auf Geheiß von jemand anderem. Für unsere Modernisierung ist er essentiell und viele halten ihn für befreiend. Aber in der arabischen Welt ist Säkularismus ein Import aus dem Ausland, von den Kolonialmächten auferlegt.
Der Säkularismus ging in der arabischen Welt eher mit Unterwerfung denn mit politischer Freiheit einher. Als die Kolonialherren gingen, wurde der Säkularismus oftmals so gewalttätig einführt, dass er als Übel erschien. Als Atatürk die moderne Türkei säkularisierte, schloss er die islamischen Madrasahs. Seine Politik der ethnischen Säuberung verband Säkularismus für immer mit der Gewalt der Jungtürken, eine säkulare Gruppierung, die in der osmanischen Türkei während des Ersten Weltkriegs für die Massaker an den Armeniern verantwortlich war. Diese Herrscher wollten, dass ihre Länder modern (also europäisch) aussehen, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung nicht mit westlichen Ideen vertraut war.
Wie war es in Ägypten, dem Geburtsland des Islamismus?
Armstrong: Nach einem Anschlag auf sein Leben im Jahr 1954 hatte Gamal Abdel Nasser Tausende Muslimbrüder eingesperrt, die meisten von ihnen waren unschuldig. Die meisten wurden ohne Gerichtsurteil für so belastende Dinge wie das Verteilen von Flugblättern oder die Teilnahme an Versammlungen eingesperrt. Einer von ihnen war Sayyid Qutb: Als er sah, wie die Muslimbrüder im Gefängnis geschlagen, gefoltert und ermordet wurden und hörte, wie Nasser versprach, Ägypten nach westlichem Modell zu säkularisieren und den Islam auf die private Sphäre zu beschränken, kam ihm der Säkularismus als ein großes Übel vor. Im Gefängnis schrieb er dann "Wegzeichen", die "Bibel" des sunnitischen Fundamentalismus. Auf Nassers Anordnung wurde er 1966 hingerichtet. Die anderen Muslimbrüder wurden in Nassers grauenhaften Gefängnissen radikalisiert. Als sie in den 1970er Jahren freikamen, haben sie ihren Extremismus schließlich in den Mainstream eingebracht.
Interview: Claudia Mende
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