Zwischen Menschenrechten und Interessen
Es war ein Besuch mit symbolischer Wucht und Sprengkraft: Als Bundeskanzler Olaf Scholz nach seiner Ankunft in der saudischen Hafenstadt Dschidda dem mächtigen Kronprinzen Mohammad bin Salman (MbS) die Hand schüttelte und im Anschluss mehrere Stunden mit ihm über regionale Sicherheit, Energie und Wirtschaft diskutierte, markierte dieses Treffen einen gewissen Paradigmenwechsel in der deutschen Politik gegenüber Saudi-Arabien.
Wegen der Ermordung des saudischen Journalisten Jamal Khashoggi im Oktober 2018, der militärischen Intervention im Jemen sowie der Vollstreckung von Todesurteilen gegen Oppositionelle und vermeintliche "Terroristen“ wird das Königreich in der deutschen Politik und Öffentlichkeit kritisch betrachtet: Auch deswegen gab es Kritik an Scholz Besuch bei MbS. In den letzten Monaten hatte erst Wirtschaftsminister Robert Habeck Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), um vor Ort über Energielieferungen wie Flüssiggas nach Deutschland zu verhandeln, ehe der Emir Scholz in Berlin besuchte.
Nun reiste der Kanzler nach seinem Treffen mit MbS weiter nach Katar, dem Land, das die kommende Fußballweltmeisterschaft ausrichtet, sowie in die VAE, um vor Ort vor allem um eine Vertiefung der Energiepartnerschaften zu werben.
Diese Beispiele zeigen eindrücklich, dass die "Zeitenwende“ in Deutschland zu einem veränderten Blick auf die Golfregion führt, der vor allem mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und der damit einhergehenden Energiekrise zusammenhängt. Das deutsche Interesse an den Golfmonarchien wird motiviert von dem Druck, mit wichtigen globalen Energielieferanten neue Partnerschaften zu erschließen. Deswegen rücken die autokratischen Monarchien am Golf stärker in das deutsche Bewusstsein, während sie in den vergangenen Jahren politisch kaum eine Rolle spielten.
Dies führt auf europäischer und deutscher Seite häufig zu einem Dilemma: Einerseits sind die Golfmonarchien wichtige sicherheitspolitische und wirtschaftliche Partner. Andererseits stehen ihre autokratischen Herrschaftssysteme im Widerspruch zu unserem Demokratieverständnis. Je mehr also Demokratien mit solchen Regierungen zusammenarbeiten, umso mehr sehen sie sich öffentlicher Kritik ausgesetzt.
Massive Kritik an Katar - und gute Geschäfte
Der Umgang mit der umstrittenen Fußballweltmeisterschaft zeigt diese mäandernde Haltung gegenüber den Golfstaaten exemplarisch: Auf der einen Seite werden die Verletzungen der Menschen- und Arbeitsrechte in Katar von der Politik, den Medien und der Zivilgesellschaft massiv kritisiert. Auf der anderen Seite haben deutsche Unternehmen mit dem katarischen Staat lukrative Verträge zum Bau der WM-relevanten Infrastruktur geschlossen.
Im Oktober 2022 wurde u.a. bekannt, dass Katars Investitionsfonds zum wichtigsten Aktionär des Energieriesen RWE aufgestiegen ist. Katar hält weiterhin Anteile an Volkswagen oder der Deutschen Bank, weiterhin ist Qatar Airways umstrittener Sponsor des FC Bayern München.
Die Debatte um die WM zeigt, dass wir gefangen sind zwischen einer moralisierenden und wertebasierten Argumentation und dem realpolitischen Zwang, mit umstrittenen Partnern zusammenarbeiten zu müssen – ob wir wollen oder nicht. Deswegen muss eine kohärente Strategie im Umgang mit den Golfstaaten auf explizit formulierten Interessen beruhen, die die Bewahrung der Menschenrechte zum obersten Ziel haben. Dafür bedarf es eines ganzheitlichen Ansatzes.
Derzeit scheint die deutsche Regierung auf der Suche nach neuen Energielieferanten moralische Zweifel an einer Zusammenarbeit zunehmend für unwichtiger zu betrachten. Dies zeigt die Ankündigung, dass Deutschland im Verbund mit anderen europäischen Partnern wieder bereit zu sein scheint, Rüstungsgüter an Länder wie Saudi-Arabien oder die VAE zu liefern.
So wurden u.a. Lieferungen von Ausrüstung und Munition für Kampfflugzeuge der Typen Eurofighter und Tornado mit einem Volumen von 36 Millionen Euro bewilligt – eine kontroverse Entscheidung. Im Koalitionsvertrag heißt es dazu noch: "Wir erteilen keine Exportgenehmigungen für Rüstungsgüter an Staaten, solange diese nachweislich unmittelbar am Jemen-Krieg beteiligt sind.“ Saudi-Arabien ist eine treibende Kraft bei der militärischen Intervention im Jemen, was seit 2018 zu einer Aussetzung der deutschen Rüstungsexporte an das Königreich geführt hatte.
Ohne die Golfstaaten geht es nicht
Dieses Vorgehen ist vor allem getrieben von der Tagesaktualität, die ohne Zweifel auch nicht ignoriert werden kann.
Dennoch birgt ein solcher Kurs die Gefahr des Aktionismus, bei dem die Einforderung von universellen Menschenrechten in der aktuellen Notlage immer unwichtiger wird.
Anstatt von einem Extrem – der Dominanz des Menschenrechtsdiskurses – ins andere – Betonung eines von Interessen geleiteten Pragmatismus – zu verfallen, sollte Deutschland stattdessen eine ausgewogene und abgewogene Politik mit den Golfstaaten anstreben: Es sollte klar definieren, welche Interessen mit welchen Partnern und mithilfe welcher Instrumente verfolgt werden sollen und wo rote Linien existieren.
Gleichzeitig will und muss Europa – und damit auch Deutschland – mit den arabischen Golfstaaten in den Bereichen Energie, Forschung und Entwicklung, Investment und Handel, Gesundheit, Tourismus, maritime Sicherheit, Entwicklungspolitik und Bildung zusammenarbeiten, wie eine neue Strategie der EU zum Umgang mit den Golfstaaten aus dem Mai 2022 darlegt.
Für Deutschland bieten sich vor allem drei Felder, in denen enger mit den Golfmonarchien zusammengearbeitet werden könnte, ohne die eigenen moralischen Grundüberzeugungen zu verraten: Migrationspolitik, Entwicklungszusammenarbeit und Klimapolitik.
Migrationspolitik: Auch wenn nach der WM die Öffentlichkeit nicht mehr kritisch nach Katar schauen wird – die Debatte um die Ausbeutung der Arbeitsmigranten muss die Politik weiter beschäftigen.
Deswegen sollten die europäischen Staaten einen ganzheitlichen Ansatz in der globalen Migrationspolitik verfolgen, der eine stärkere Kooperation mit den arabischen Golfstaaten anstrebt.
Migration ist ein grenzübergreifendes Phänomen; sie betrifft nicht nur Empfängerländer wie Katar, sondern bereits die Heimatländer. Es geht also darum, Migrantinnen und Migranten sowie ihre Familien bereits vor ihrer Ausreise besser vor Ausbeutung zu schützen. Hier könnten sich die Golfstaaten gemeinsam mit Ländern wie Deutschland stärker engagieren, um ihrer Verantwortung gerecht zu werden.
Die Entwicklungszusammenarbeit der Golfstaaten
Entwicklungszusammenarbeit: Vielen ist nicht bekannt, dass sich die arabischen Golfstaaten in den letzten Jahren als einflussreiche und verlässliche Partner in der Entwicklungspolitik positioniert haben: 75 Prozent der nicht-offiziellen Entwicklungshilfe stammen aus Katar, Saudi-Arabien, den VAE und Kuwait, die im Durchschnitt mehr als ein Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Entwicklungszusammenarbeit ausgaben.
Lag der Schwerpunkt in der Vergangenheit vor allem auf finanzieller Hilfe, investieren die meisten Golfstaaten heutzutage zunehmend in Bildungs- und Ausbildungsprogramme.
Vor diesem Hintergrund bietet die Entwicklungspolitik eine gute Möglichkeit, enger mit den Golfstaaten zu kooperieren. Allerdings bestehen Risiken, da die Golfstaaten kein Interesse daran haben, mit ihrer Entwicklungspolitik Demokratiebestrebungen oder die Zivilgesellschaft in Afrika oder Asien zu stärken. Diese Risiken müssen also eng geprüft werden, bevor gemeinsame Projekte umgesetzt werden.
Klimapolitik und Energiepartnerschaften: Die Besuche von Scholz in Saudi-Arabien, Katar und den VAE haben es gezeigt: Deutschland hat ein enormes Interesse, im Energiebereich mit den Golfstaaten zusammenzuarbeiten. Bis Ende dieses Jahrhunderts könnte die Golfregion aufgrund des rapiden Klimawandels für den Menschen unbewohnbar werden.
Gelingt es den Herrschern am Golf nicht, den Energieverbrauch zu senken und sich von den fossilen Ressourcen zu verabschieden, hätte das nicht nur dramatische Konsequenzen für ihre Bevölkerung, sondern auch für ihre Herrschaft.
So bieten sich trotz bestimmter Risiken für Deutschland Chancen in der klima- und energiepolitischen Zusammenarbeit. Dies zeigen u.a. die Energiepartnerschaften mit Saudi-Arabien und den VAE im Bereich des Wasserstoffs. Trotz dieser Möglichkeiten: Deutschland sollte vermeiden, sich – im Gegensatz zu Russland – energiepolitisch in die Abhängigkeit von den Golfstaaten zu begeben.
Es bestehen also Möglichkeiten, pragmatisch und strategisch mit den Golfstaaten zusammenzuarbeiten, ohne die eigenen Werte zu verraten. Allerdings wird eine solche Kooperation nie frei von Risiken sein. Dieser Gefahr muss mit einer differenzierten Debatte vorgebeugt werden, ohne zu verharmlosen, zu dramatisieren oder zu pauschalisieren. Dabei sollte es immer darum gehen, Menschenrechte und Interessen nicht als Gegensatz, sondern als Tandem zu sehen. Nur wenn ernsthaft versucht wird, ein solches Zusammenspiel zu erreichen, kann der scheinbare Gegensatz von moralischer Verantwortung und interessengeleiteter Realpolitik aufgelöst werden.
Sebastian Sons
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