Das neue, schreckliche Leben in Gaza und Israel

Im Nahen Osten ist der Konflikt zwischen der Hamas und Israel wieder in aller Härte aufgeflammt. Für Zivilisten auf beiden Seiten sind die Angriffe und Raketeneinschläge eine furchtbare Qual. Tania Krämer berichtet aus Ashkelon.

Von Tania Krämer

Am Montag (10.05.) herrschte noch festliche Stimmung in Gaza. Inmitten der Pandemie bereiteten sich die Einwohner so gut es ging auf das Ende des Fastenmonats Ramadan vor. "Wir haben unsere Häuser geputzt und den Kindern neue Kleider für das Fest gekauft. Aber jetzt ist alles anders", erzählt Mariam Sersawi aus Gaza am Vorabend des dreitägigen Fastenbrechens. 

Sersawi ist 25 Jahre alt und Autorin. Sie lebt in Shejaieh, im Osten der Stadt Gaza. Weder sie noch die anderen hätten sich vorstellen können, wie schlimm es an diesem Tag noch kommen würde. Der neue, rasant eskalierende Konflikt erinnert sie an den Krieg, der 2014 ihr Viertel verwüstete. "Ich bin verzweifelt. Der Lärm der Bomben ist furchtbar", sagt sie und kämpft am Telefon mit den Tränen. "Ich bin erschöpft."

In den folgenden Tagen spitzte sich die Lage immer mehr zu, und die Einwohner beschreiben in den sozialen Medien, wie entsetzlich sich die heftigen Bombardierungen aus Israel anfühlen. In der Nacht auf Freitag (14.05.) griffen 160 israelische Kampfflugzeuge den Gazastreifen an, so die israelische Armee. 

Ashkelon unter ständigem Beschuss

Auch in Israel ist kein normales Leben mehr möglich. In der Nacht zum Freitag schossen die militante Hamas und der Islamische Dschihad über 200 Raketen auf das Territorium. In Ashkelon heulen fast ständig die Sirenen, die vor einem Angriff warnen.

Die Stadt nördlich des Gaza-Streifens war in den vergangenen Tagen unzähligen Einschlägen ausgesetzt. Die Besucher eines Einkaufszentrums sowie Menschen aus der Nachbarschaft rannten in die Tiefgarage, sobald die Alarmsirenen ertönten - sie kennen diese Schutzmaßnahmen, aber diese schüren immer wieder Angst.

Es gibt nur wenige Sekunden, um Schutz zu suchen, die Zeit ist knapp. Kaum im Schutzraum angekommen, hört man heftige Detonationen, wenn die Abfangraketen der sogenannten Eisenkuppel, dem Iron Dome, explodieren.

Mit diesem Abwehrsystem fängt Israel zwar einen Großteil der Raketen aus Gaza ab, aber nicht alle. Vor einem Tag traf ein Geschoss in Ashkelon eine Straße und beschädigte Häuser und Autos.

Rauch und Feuer über dem Hochhaus Al-Sharouk, das zusammenfällt, nachdem es von einer israelischen Rakete getroffen wurde; Foto: Qusay Dawud/AFP/Getty Images
Ein Waffenstillstand erscheint zurzeit unwahrscheinlich. "Ich habe gesagt, dass die Hamas und die anderen Terrororganisationen einen sehr hohen Preis zahlen werden. Dafür sorgen wir gerade, und wir werden die Angriffe mit großer Intensität fortsetzen", sagte Premierminister Benjamin Netanjahu am 13. Mai. "Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen, und diese Operation wird so lange wie nötig weitergehen, bis wieder Ruhe und Sicherheit in Israel herrschen."

"Es ist sehr stressig", sagt uns Shula Elimelech, die erschöpft aussieht. "Aber wir halten uns an die Maßnahmen und vertrauen den israelischen Verteidigungsstreitkräften. Und wir vertrauen auf Gott." 

Bäcker Shmaayah Sassporta bereitet trotz allem das traditionelle Challah-Brot für den Shabbat vor. "Den Raketenbeschuss gibt es schon seit vielen Jahren. Und ich glaube nicht, dass er bald aufhört", sagt Sassporta, der kaum Hoffnung hat, dass diese ständige Bedrohung ein Ende hat. 

Keine Luftschutzkeller, keine Sirenen

Drei Kriege und unzählige kürzere militärische Konflikte gab es zwischen Israel und der Hamas. Im nur wenige Kilometer entfernten Gazastreifen hat sich diese Erfahrung ins Gedächtnis der Menschen gebrannt.

Wieder müssen sich die Bewohner an eine militärische Eskalation anpassen und zu Hause Schutz suchen. Heraus trauen sie sich nur noch, um das Nötigste einzukaufen. Denn in Gaza gibt es weder Luftschutzkeller noch Sirenen. Zwei Millionen Einwohner leben in dem von Israel abgeriegelten Gebiet, das von der militanten Hamas kontrolliert wird.

Am Montag (10.05.) bereitete Universitätsdozent Abed Shokry im Homeoffice seine Vorlesung vor, als ihm klar wurde, was passierte. "Was wollen die Israelis von uns?" fragt er sich.

Inzwischen wechselt er zuhause ständig von einem Raum in den nächsten, um ein Gefühl von Sicherheit zu finden. Die Bombenangriffe in der Nachbarschaft haben auch sein Haus erschüttert.



"Ich fühle mich hilflos"

"Die Angriffe sind stärker, gefährlicher und gewaltiger als 2014", berichtet er am Telefon. "Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich fühle mich ohnmächtig, hilflos. Wir können nichts machen. Es gibt keinen sicheren Ort. Wir haben keine Bunker."

Mehr als zehn Jahre lebte Shokry in Deutschland, bevor er 2007 nach Gaza zurückkehrte. Nachdem die Hamas in dem Jahr ihre Macht in Gaza konsolidierte, verschärften Israel und teilweise auch Ägypten die Blockade des Gebiets. 

Auf WhatsApp schreibt der Dozent am Freitag (14.05.), das israelische Militär habe seine Nachbarn aufgefordert, das Hochhaus nebenan zu evakuieren. "Wenn sie es bombardieren und zerstören, sind auch wir davon betroffen. Ich kann nur versuchen, unsere Kinder zu beruhigen."

Man habe zwar ahnen können, sagt Shokry, wie sehr die Geschehnisse in Jerusalem auch den Gaza-Konflikt betreffen. Dennoch hat der Ausbruch der Kämpfe die meisten Menschen überrascht. 

Israels Luftabwehrsystem Iron Dome fängt eine Rakete ab, die vom Gaza-Streifen aus abgeschossen wurde; Foto: Jack Guez/AFP/Getty Images
Militante Palästinensergruppen haben mehr als 1.600 Raketen in Richtung Israel abgeschossen. In der Stadt Ashkelon nördlich des Gaza-Streifens heulten die Alarmsirenen immer wieder. Sie war in den vergangenen Tagen unzähligen Einschlägen ausgesetzt. Die Besucher eines Einkaufszentrums sowie Menschen aus der Nachbarschaft rannten in die Tiefgarage, sobald die Alarmsirenen ertönten. Es gibt nur wenige Sekunden, um Schutz zu suchen. Kaum sind sie im Schutzraum angekommen, hört man heftige Detonationen, wenn die Abfangraketen der sogenannten Eisenkuppel, dem Iron Dome, explodieren.

Zwangsräumungen und Proteste

Seit Wochen gab es Zusammenstöße zwischen palästinensischen Einwohnern und israelischen Polizisten im Viertel Sheikh Jarrah von Ost-Jerusalem. Als rechte israelische Politiker das Viertel besuchten, fassten palästinensische Bewohner das als Provokation auf. Demonstrationen rechtsextremer Israelis haben die Spannungen weiter angeheizt. 

In Sheikh Jarrah wehren sich vier palästinensische Familien gerichtlich sowie mit Mahnwachen und Protestaktionen gegen die drohende Zwangsräumung ihrer Häuser zugunsten von israelischen Siedlern, die Eigentumsrechts geltend machen. Auf dem Harem Al Sharif, den die Juden Tempelberg nennen, und in der Al-Aqsa-Moschee kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen zwischen israelischen Sicherheitskräften und Palästinensern. Hamas forderte am 10. Mai in einem Ultimatum: Israel müsse alle Sicherheitskräfte von dem heiligen Gelände und aus dem Viertel Sheikh Jarrah abziehen, ansonsten werde sie mit Raketenangriffen reagieren. Nach Ablauf des Ultimatums um 18 Uhr Ortszeit schoss die Hamas schließlich mehrere Raketen nach Jerusalem. 

Israel hat Berichten zufolge mehr als 600 Luftangriffe auf Gaza gestartet. Palästinensische Kämpfer haben nach israelischer Zählung insgesamt 1800 Raketen in Richtung Südisrael und in die Landesmitte geschossen. Das ist der Stand am Freitag (14.05.).



"Wir setzen die Angriffe fort"

Im Ausland werden die intensiven Angriffe mit Sorge verfolgt. Aber ein Waffenstillstand erscheint zurzeit unwahrscheinlich. 

"Ich habe gesagt, dass die Hamas und die anderen Terrororganisationen einen sehr hohen Preis zahlen werden. Dafür sorgen wir gerade, und wir werden die Angriffe mit großer Intensität fortsetzen", sagte Premierminister Benjamin Netanjahu am Donnerstagabend.

"Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen, und diese Operation wird so lange wie nötig weitergehen, bis wieder Ruhe und Sicherheit in Israel herrschen."

Doch er betonte, dass Israel an "zwei Fronten" kämpfe. Damit meint er die inländischen Konflikte zwischen jüdischen und arabischen Israelis.

 

In vielen Städten mit sowohl jüdischer als auch arabischer Bevölkerung in Israel kam es zu erheblichen Unruhen mit Sachschäden und Übergriffen auf Einzelpersonen. Gewaltausbrüche gingen von rechtsextremen jüdischen wie von arabischen Israelis aus. In der Stadt Lod musste eine Ausgangssperre verhängt werden. 

Weiter südlich, in einem kleinen Moshav (Siedlung) in der Nähe des Grenzzauns zwischen Gaza und Israel, spricht Yoga-Lehrerin Anat Partoush per Videoanruf mit uns. Gerade habe sie sich daran gewöhnt, nach der Pandemie wieder arbeiten zu gehen. Nun müsse sie erneut zu Hause bleiben.

"Wenn der Bombenalarm losgeht, hat man nur wenige Sekunden, um sich Schutz zu suchen", sagt die Yoga-Lehrerin. "Ich habe Angst und bin frustriert. Aber wir setzen auf die Bunker, und der Iron Dome gibt mir ein sicheres Gefühl. Es ist nicht einfach, den Lärm all dieser Raketen zu hören, aber ich weiß, das ist nur vorübergehend so."



Noch ein langer Weg zum Frieden

Partoush unterstützt Netanjahus Likud-Partei und freut sich, dass der Premier immer noch an der Macht ist. "Wir haben schließlich keinen Zauberstab. Viele geben Netanjahu die Schuld an der Eskalation und alle fühlen sich so schlau. Dabei ist es kompliziert und ich bin froh, dass Bibi Netanjahu einen klaren Kopf behält."

Der amtierende Premier hat es nach der Parlamentswahl im März nicht rechtzeitig geschafft, eine neue Koalition zu bilden. Seine Rivalen, Yair Lapid von der liberalen Yesh Atid-Partei und Ex-Verteidigungsminister Naftali Bennett von der Yamina-Allianz, haben sich an einem breiteren politischen Bündnis versucht.

Doch am Donnerstag berichteten israelische Medien, so eine Regierung käme für Bennett doch nicht mehr in Frage. Er wolle nun wieder mit Netanjahu eine rechte, nationalistische und religiös orientierte Regierung bilden. 

Yoga-Lehrerin Partoush setzt auf arabische Länder wie die Vereinigten Arabischen Emirate oder Bahrain, mit denen Israel seine Beziehungen kürzlich normalisiert hat, um eine langfristige Lösung für den Konflikt mit den Palästinensern zu finden.

Aber solange Gaza von der Hamas kontrolliert werde, da ist sie sich sicher, könne es keine politische Lösung geben. Und von daher sei es noch ein langer Weg zum Frieden.

Der Text wurde aus dem Englischen adaptiert.

Tania Krämer

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