Tod durch Drohnenangriff

Im Jahr 2019 gab es in Afghanistan mehr US-amerikanische Drohnenangriffe als je zuvor seit Beginn der Aufzeichnungen durch das Pentagon im Jahr 2006. Als "Präzisionsschläge" zur Ausschaltung mutmaßlicher Kämpfer bezeichnet, sind tatsächlich häufig Zivilisten die unschuldigen Opfer dieser militärischen Taktik. Das allerdings scheint niemanden zu interessieren. Von Emran Feroz

Von Emran Feroz

Im vergangenen November griff eine amerikanische Drohne des Typs Reaper eine Gruppe von Dorfbewohnern in der Bergregion der südöstlichen Provinz Paktia an und tötete sieben von ihnen. Die Dorfbewohner sagen, der Angriff sei kein Einzelfall gewesen, doch außerhalb Afghanistans werde darüber nie berichtet. In Paktia seien zwar seit langem auch militante Taliban ansässig, aber bei den Opfern handele es sich ausnahmslos um Zivilisten – darunter drei Frauen und ein Kind. Sie seien in dem abgelegenen Gebiet unterwegs gewesen, um ihr Vieh zu weiden und Holz zu sammeln. Kurz darauf waren sie tot.

„Niemand möchte uns zuhören. Ich bezweifle, dass die Mörder jemals zur Rechenschaft gezogen werden. Unsere einzige Hoffnung ist Gott“, sagt Mohammad Anwar, ein Verwandter der Opfer, aus dem Bezirk Zazai Aryob in der Provinz Paktia. Die Verantwortlichen sitzen weit entfernt in einer der vielen US-Militärbasen, von wo aus die Drohneneinsätze durchgeführt werden. 

Nach Angaben von Mohammad Anwar haben einige Familien ihre Ernährer verloren, wie so oft bei solchen Angriffen. „Sie sind verzweifelt und ihre Zukunft ist ungewiss“, erklärte er in einem Telefongespräch mit der amerikanischen Zeitschrift Foreign Policy.

Die Lage ist jetzt unsicherer als je zuvor. Das jüngst unterzeichnete Abkommen zwischen den USA und den Taliban beinhaltet vertrauliche Zusatzprotokolle, die Berichten der New York Times zufolge die Taliban mit Informationen über amerikanische Truppenbewegungen versorgen. Damit wollen die USA offenbar ein Stillhalten der islamistischen Rebellengruppe während ihres Truppenrückzugs aus Afghanistan erreichen. Die afghanische Regierung und ihre Vertreter wurden trotz anhaltender Forderungen, Friedensgespräche mit allen afghanischen Akteuren zu führen, ins Abseits gedrängt und die Bürger Afghanistans haben keine Möglichkeit ihre Rechte gegenüber den USA vorzubringen. Sie wissen auch nicht, ob die Drohnenangriffe überhaupt eingestellt werden.

„Terror nicht mit Terror bekämpfen“

Für Lisa Ling, einer ehemaligen Expertin für Drohnentechnik bei  der US-Luftwaffe in Afghanistan, sind Untersuchungen zu tödlichen Drohnenangriffen auf zivile Opfer überfällig. Diese Tötungen sollten ihrer Ansicht nach als Kriegsverbrechen eingestuft werden.

„Jeder Angriff, bei dem Bürgermeister berichten, dass Zivilisten getötet wurden, sollte vom Internationalen Strafgerichtshof gründlich untersucht werden. Die internationale Gemeinschaft sollte diesen Hinweisen Gehör schenken“, sagte sie gegenüber Foreign Policy.Ling, die mittlerweile eine Whistleblowerin geworden ist und die Drohnenangriffe scharf kritisiert, ist der Ansicht, dass „diese Art der Kriegsführung in vielerlei Hinsicht falsch ist“ und dass die Amerikaner „Terror nicht mit Terror bekämpfen“ dürften.

Auf Anfrage beantworteten weder das US-Militär noch die CIA eine Bitte um Stellungnahme. Beide stellen Drohnenangriffe typischerweise als „Präzisionsschläge“ dar, mit denen „mutmaßliche Kämpfer“ oder „Terroristen“ getötet werden. Untersuchungen der Vorfälle vor Ort finden nur selten statt.

Forscher des Center for Civilians in Conflict und des Human Rights Institute der Columbia Law School analysierten kürzlich 228 offizielle Untersuchungen, die das US-Militär zwischen 2002 und 2015 in Afghanistan, Irak und Syrien durchgeführt hat. Danach fand nur bei 16 Prozent der in der Studie untersuchten Fälle mit zivilen Opfern überhaupt eine Überprüfung vor Ort statt.

Infografik zur Darstellung der geschätzten weltweiten Drohnenproduktion  (Quelle: DW)
According to new figures released by the Pentagon, at least 7,423 bombs and other munitions were dropped on Afghanistan in 2019, a nearly eightfold increase from 2015 and an average of 20 bombs a day

Dasselbe galt für den Angriff in Paktia. Kein einziger US-Ermittler hat wohl jemals den Ort des Angriffs besucht.  Auf seiner Twitter-Seite in Dari berichtete das Zentralkommando der Vereinigten Staaten (CENTCOM), im gleichen Zeitraum seien bei einer Aktion angeblich Mitglieder der Taliban aus der Provinz Faryab getötet worden, ohne aber Drohnenangriffe oder Opfer unter der Zivilbevölkerung zu erwähnen.

Traumatisierte Zivilisten 

Trotz des Abkommens zwischen den USA und den Taliban leben die Bewohner im Bezirk Zazai Aryob  der Provinz Paktia weiter in Angst. Sie würden seit Jahren von amerikanischen Drohnenangriffen heimgesucht, sagen sie. Ihr Schicksal werde häufig sowohl vom US-Militär als auch von der Regierung in Kabul ignoriert.

„Die USA behaupten, sie töten Terroristen. Aber das ist nicht wahr. Bauern, Hirten und Frauen sind keine Terroristen. Eines der Opfer, Naqib Jan, war ein zweijähriges Kind“, sagt Islam Khan, Lehrer in einem der Dörfer.

Mehrere Angehörige und Mitglieder aus Khan‘s Familie waren in den letzten Jahren durch Drohnenangriffe getötet worden. Der Lehrer berichtet, seine Landsleute seien verängstigt und verzweifelt. Sie seien traumatisiert und viele Kinder hätten Angst, draußen zu spielen. „Wir haben versucht, uns bei den offiziellen Stellen Gehör zu verschaffen. Wir haben uns sogar an Präsident Ashraf Ghani gewandt, doch ihm ist das egal“, sagt Khan.

Der ehemalige afghanische Präsident Hamid Karzai stand den US-Luftangriffen kritisch gegenüber und äußerte dies auch öffentlich. Die Regierung des derzeitigen Präsidenten Ashraf Ghani, die wegen des Vormarschs der Taliban in vielen Teilen des Landes von der Unterstützung der USA abhängig ist, zieht es dagegen vor, dem Narrativ Washingtons vom „Krieg gegen den Terror“ zu folgen und die zahlreichen zivilen Opfer weitgehend zu ignorieren.

In einigen Fällen wiesen die afghanischen Offiziellen sogar die Ergebnisse unabhängiger Beobachter und Menschenrechtsorganisationen zurück, die Beweise für zivile Opfer vorgelegt hatten. Vertreter des US-Militärs behaupteten mitunter auch, ihre Verbündeten in der afghanischen Armee hätten die Angriffe angefordert.Internationaler Strafgerichtshof leitet Untersuchung von Kriegsverbrechen ein

Anfang März genehmigten die obersten Richter des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag eine Untersuchung von mutmaßlichen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Afghanistan. Damit hoben sie ihre frühere Ablehnung einer derartigen Untersuchung wieder auf. Die Untersuchung des Internationalen Strafgerichtshofs wird sich hauptsächlich mit dem Vorgehen der amerikanischen und afghanischen Truppen sowie der Taliban befassen.

Nach der Ankündigung des Internationalen Strafgerichtshofs griff US-Außenminister Mike Pompeo die Entscheidung prompt an und bezeichnete sie als „unbesonnen“. Er kündigte an, seine Regierung werde in den kommenden Wochen entsprechende Schritte einleiten, um zu verhindern, dass US-Bürger vor Gericht gestellt werden können.

Bei möglichen amerikanischen Kriegsverbrechen konzentriert sich der Internationale Strafgerichtshof allerdings auf Folter seitens der CIA, sowie einige Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen und außergerichtlichen Hinrichtungen. Drohnenangriffe, wie derjenige, der die Familie von Islam Khan auslöschte, werden offenbar nicht berücksichtigt.

„Diese Angriffe können zwar als Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht betrachtet werden. Aber das macht sie nicht zu Kriegsverbrechen. Diese müssen vorsätzlich oder zumindest hinreichend rücksichtslos begangen werden. Um diese Rücksichtslosigkeit festzustellen, ist in jedem Fall eine rechtliche Prüfung der Beweise erforderlich“, erklärte Patricia Gossman, stellvertretende Asien-Direktorin bei Human Rights Watch, per E-Mail gegenüber Foreign Policy.

Familienangehörige der Opfer in Paktia zweifeln nicht daran, dass es sich bei den Drohnenangriffen um Menschenrechtsverstöße handelt. „Wir glauben nicht an einen Irrtum. Dazu passiert es zu oft. Wir wollen, dass die Täter verfolgt und vor Gericht gestellt werden“, so Islam Khan.

Andere Afghanen stimmen ihm zu. „Was in Paktia geschah, war ein Kriegsverbrechen. Die Verantwortlichen müssen vor Gericht gestellt werden. Wortklaubereien interessieren uns nicht. Wir fordern Gerechtigkeit. Dies ist bloß einer von Tausenden ähnlicher Vorfälle, die sich seit Ende 2001 ereignet haben“, sagte Abdul Malik Zazai, Vorsitzender des Provinzrats von Paktia.

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Stehen die USA über dem Gesetz?

Das US-Militär unterscheidet nicht zwischen Angriffen mit Drohnen oder konventionellen Flugzeugen. Ende 2001 begann das Zeitalter der Drohnenkriege. In Afghanistan fand der erste tödliche Angriff eines unbemannten Flugzeugs in der Geschichte der Menschheit statt. 

Nach Angaben des in London ansässigen Bureau of Investigative Journalism, das die US-Drohnenkriegsführung weltweit untersucht, gab es im Jahr 2019 in Afghanistan mindestens 6.825 Drohnenangriffe. Die Mehrzahl der Opfer ist nach wie vor unbekannt, da die meisten Angriffe in abgelegenen Gebieten stattfanden, wie beispielsweise in Zazai Aryob. 

„Die Amerikaner profitieren von der Art dieses Krieges und vom Status quo der internationalen Gemeinschaft. Sie glauben, über dem Gesetz zu stehen“, meint Karim Popal, ein afghanisch-deutscher Anwalt, der die Opfer eines NATO-Luftangriffs vertritt, der 2009 von einem deutschen Oberst in der Provinz Kundus angeordnet wurde. Damals starben Dutzende von Zivilisten.

Ein deutsches Gericht lehnte es ab, das Massaker als Kriegsverbrechen zu bewerten und den Familien der Opfer eine Entschädigung zu zahlen. Nur wenige Jahre später wurde der verantwortliche Oberst sogar befördert. Kürzlich fand eine Anhörung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg statt, die bisher allerdings noch zu keinen konkreten Ergebnissen führte.

„Allein diese Anhörung ist schon ein enormer Erfolg. Aber es ist dennoch offensichtlich, dass viele westliche Länder, darunter auch Deutschland und die Vereinigten Staaten, kein Interesse daran haben, sich mit den Verbrechen ihrer Truppen auseinanderzusetzen“, sagte Popal. „Stellen Sie sich vor, Sie würden als Vater oder als Mutter erfahren, dass die Person, die Ihre Kinder getötet hat, nicht verurteilt, sondern befördert wurde. Das ist einfach empörend.“

Emran Feroz

© Qantara.de 2020

Aus dem Englischen von Peter Lammers