Verdrängte Realitäten bis zum Schluss
"Womöglich wird es wie beim letzten Mal sein. Da nahmen sie Kabul über Nacht ein“, erzählte Ahmad Jawed, 30, aus Kabul am vergangenen Samstag (14.08.). Als die militant-islamistischen Taliban die afghanische Hauptstadt vor 25 Jahren erstmals einnahmen, war Jawed ein kleines Kind. An jenen Morgen damals kann er sich dennoch gut erinnern. Plötzlich waren die Taliban-Kämpfer da, während die Vertreter der Mudschaheddin-Regierung, die sich zuvor jahrelang gegenseitig bekämpft hatten, geflüchtet waren. Nun, knapp zwanzig Jahre nach Beginn der NATO-Besatzung im Land, könnte sich dieses Szenario wiederholen. "Die letzten Tage haben deutlich gemacht, dass sie bald hier sein werden“, sagt Jawed.
Kurz darauf wurde seine Vorhersage bestätigt. Nachdem die Taliban in den Tagen zuvor alle wichtigen Provinzhauptstädte erobern konnten, marschierten sie am Sonntag (15.08.) auch in Kabul ein. In vielen Fällen verließen Armee und Polizei ihre Posten bereits, noch bevor die Aufständischen die Stadt betraten. Zeitgleich flüchtete der afghanische Präsident Ashraf Ghani mitsamt seiner Entourage und verließ das Land Hals über Kopf. Er verhielt sich dabei wie ein neokolonialer Statthalter – und als solcher wurde er in den letzten Jahren nicht nur von den Taliban bezeichnet, sondern von vielen Afghanen, die nicht von seinem korrupten Staatsapparat profitierten.
Einigen Berichten zufolge sollen Ghanis Männer Taschen voller Bargeld mitgenommen haben. Es war im Übrigen auch Ghani, der vor wenigen Jahren meinte, keine Sympathien für afghanische Geflüchtete zu hegen. Sie würden ohnehin nur als Tellerwäscher im Westen enden. Nach Ghanis Flucht nahmen die Taliban den Präsidentenpalast ein und posierten unter anderem vor dessen Schreibtisch.
Einer der anwesenden Kommandanten meinte kurz darauf während einer improvisierten Pressekonferenz für den katarischen Sender Al Jazeera, dass er einst von den Amerikanern acht Jahre lang in Guantanamo festgehalten und gefoltert wurde. Zufall? Woher eher weniger. Stattdessen wurde abermals klar, dass der amerikanische "War on Terror“ zahlreiche Menschen in Afghanistan radikalisiert hat – und dass viele von ihnen ihn bis heute nicht vergessen haben.
Durften nur weiße US-Amerikaner an Bord?
Die Ereignisse überschlugen sich weiterhin. Massen von Menschen strömten zum Kabuler Flughafen, wo amerikanische Truppen mit der Evakuierung ihrer Staatsbürger beschäftigt waren. Auch am Tag darauf fand das Chaos am Flughafen kein Ende. Einige Menschen hielten sich an einem US-Flieger fest, während dieser abhob, und starben bei dem verzweifelten Fluchtversuch. Währenddessen schossen US-Soldaten in die Menge der verzweifelten Afghanen. "Ein Verwandter von mir wurde getötet. Er war Arzt“, erzählte Sangar Paykhar, ein holländisch-afghanischer Journalist und Podcaster, später. Die afghanisch-amerikanische Autorin und Aktivistin Nadia Hashemi behauptete, dass US-Afghanen teilweise der Einlass ins Flugzeug verwehrt wurde. Der Grund: Sie seien keine weißen Amerikaner gewesen.
Die jüngsten Szenen aus Kabul haben stärker denn je deutlich gemacht, dass der westliche Einsatz in Afghanistan gescheitert ist. Während seiner gestrigen Rede erwähnte US-Präsident Joe Biden jene Afghanen, die in den letzten zwei Jahrzehnten beim amerikanischen Krieg gegen den Terror getötet wurden, kein einziges Mal. Stattdessen waren seine Worte abermals von Realitätsverweigerung und Ignoranz geprägt. Die wahren Gewinner des Krieges sitzen nicht im Weißen Haus, sondern in Kabul.
So stark wie jetzt waren die Taliban noch nie. Allein in den letzten Tagen und Wochen haben sie zahlreiches Hochtechnologie-Kriegsgerät aus amerikanischer Produktion erbeutet. Abgesehen von der Provinz Panjsher nördlich von Kabul, die stets für ihren Widerstand gegen die Taliban bekannt war, kontrollieren die Extremisten nun wieder fast ganz Afghanistan. Hinzu kommt ihre politische Stärke auf der internationalen Bühne, an der sie in den letzten Jahren gearbeitet haben.
Zahlreiche Analysen und Prognosen bezüglich einer Machtübernahme der Taliban mussten in den letzten Tagen mehrfach korrigiert werden. Der US-Geheimdienst CIA ging etwa am Samstag noch davon aus, dass Kabul in den nächsten 30 bis 90 Tagen erobert werden könnte. Am Ende geschah alles innerhalb von 24 Stunden. Selbst vielen bekannten US-Analysten in Washington fehlten aufgrund der jüngsten Ereignisse teils die Worte.
Bill Roggio von der rechtskonservativen US-Denkfabrik "Foundation for the Defense of Democracies“ bezeichnete den erfolgreichen Vormarsch der Taliban als eines der "größten geheimdienstlichen Versagen der letzten Jahrzehnte“. Die ausgeklügelte Kriegsstrategie der Taliban sei laut Roggio "verdammt brillant“. Die Extremisten fokussierten sich anfangs auf den Norden des Landes, bevor sie landesweit weitere Städte einnahmen.
Wie konnte das passieren?
Es gibt mehrere Gründe, warum all dies passieren konnte. Viele Ursachen für das Scheitern des Westens wurden jahrelang verdrängt und ignoriert – nicht nur, weil man das eigene Gesicht wahren wollte, sondern weil man Afghanistan nach all den Jahren immer noch nicht kannte. Praktisch alle Distrikte jener Provinzhauptstädte, die vor Kabul fielen, wurden bereits seit Jahren von den Taliban kontrolliert. Die Taliban hatten sich hier festgesetzt und im Schatten agiert und regiert. In diesen ländlichen Regionen konnten die Extremisten früh Fuß fassen, unter anderem aufgrund der massiven Korruption in der Hauptstadt sowie der zahlreichen Militäroperationen der NATO und ihrer afghanischen Verbündeten.
Denn die Drohnenangriffe und brutalen nächtlichen Razzien verursachten regelmäßig zahlreiche zivile Opfer in den afghanischen Dörfern. Viele Hinterbliebene der Opfer schlossen sich den Taliban in der einen oder anderen Art und Weise an. Dies war de facto auch vor den Toren Kabuls der Fall. Lange vor den jüngsten Entwicklungen reichte eine zwanzig- bis dreißigminütige Fahrt aus, um ins Taliban-Gebiet zu gelangen.
Airport in #Kabul… Listen .. #kabulairport #Afghanistan pic.twitter.com/0hsDWNqOFS
— Natalie Amiri (@NatalieAmiri) August 16, 2021
Mit derartigen Realitäten wollten sich die Verantwortlichen in den Regierungen des Westens allerdings nicht auseinandersetzen. Stattdessen fand die große Selbstbeweihräucherung statt. Man sprach von den "überzeugenden eigenen Werten" und fokussierte sich auf die vermeintlichen Errungenschaften, die es seit 2001 in Afghanistan gegeben habe. Man sprach von Demokratie, obwohl in den letzten zwanzig Jahren kein einziger demokratischer Machttransfer in Afghanistan stattgefunden hat.
Dies hatte gewiss nicht mit jenen Afghanen zu tun, die ihr Leben riskierten und tatsächlich zur Wahlurne schritten, sondern in erster Linie mit jenen korrupten Eliten, die in Kabul von den USA an die Macht gebracht wurden. Männer wie Hamid Karzai oder der geflüchtete Ashraf Ghani höhlten das neue System für ihre eigenen Zwecke aus und machten stets von Wahlfälschungen Gebrauch, um an der Macht zu bleiben. Ähnlich verhielten sich auch andere innerafghanische Akteure, darunter etwa zahlreiche bekannte Kriegsfürsten und Drogenbarone, die zu den engsten Verbündeten des Westens am Hindukusch wurden. Sie bereicherten sich dank der zahlreichen ausländischen Hilfsgelder persönlich und schafften Milliarden von Dollar ins Ausland.
Gleichzeitig gehörten sie auch zu den größten Profiteuren des Krieges, etwa dank privater Sicherheitsunternehmen, die sie selbst schufen, um Anschläge auf NATO-Truppen zu fingieren. Im Nachhinein wurden aufgrund der vermeintlichen Terrorgefahr lukrative Verträge unterzeichnet.
Spätestens seit Ende 2019 ist bekannt, dass man in Washington und anderswo über all diese Fehlentwicklungen Bescheid wusste. Damals wurden von der Washington Post die sogenannten "Afghanistan Papers“ veröffentlicht, in denen rund 400 hochrangige US-Offizielle ihr Versagen in Afghanistan mehr oder weniger zugaben. Die entsprechenden Details wurden jahrelang unter Verschluss gehalten.
Doch auch darüber will heute niemand sprechen. Stattdessen betont man, die Taliban hätten Afghanistan und den Westen aus dem Nichts heraus überrumpelt. Man habe es allem Anschein nach mit bestem Wissen und Gewissen versucht, doch daraus wurde nun leider nichts. Nach einer zwanzigjährigen Fehlintervention, die Hunderttausenden von Afghanen das Leben kostete und Millionen von ihnen zu Geflüchteten machte und in die Armut trieb, hat der Westen nicht nur sein Interesse an Afghanistan verloren: Er fühlt sich für die Misere nicht mitverantwortlich. "Die sind eben so. Das ist nicht unsere Schuld“, lautet der kulturrelativistische Tenor. Besonders in diesen Tagen hallt er laut.
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