"Palästinenser müssen ihr Narrativ zurückgewinnen"

Isabella Hammads Roman basiert auf dem Leben ihres Urgroßvaters. Das fesselnde Debüt ist ein klassischer Coming-of-Age-Roman in einer Zeit, in der das Osmanische Reich zusammenbricht und die palästinensischen Nationalbewegung entsteht. Im Qantara-Gespräch mit Schayan Riaz spricht die junge britische Autorin mit palästinensischen Wurzeln über Erfahrungen von Rassismus und die Selbstermächtigung der Palästinenser.

Von Schayan Riaz

Frau Hammad, die Hauptfigur in Ihrer Geschichte, Midhat Kamal, ist eine Hommage an Ihren Urgroßvater. Sind Sie mit vielen Geschichten über ihn aufgewachsen?

Isabella Hammad: In meiner Familie gibt es viele gute Geschichtenerzähler, und was sie über meinen Urgroßvater berichtet haben, war immer sehr lustig. Als Kind hatte ich bereits ein starkes Bild von Midhat vor Augen. Wenn man immer wieder Anekdoten über eine Person hört, dann entwickelt man ein Gespür für sie. Das war die Basis für die Figur in meinem Roman. Ich habe auch meine Großmutter und andere Verwandte interviewt, die ihn in Nablus kannten, wie etwa meine Tanten. Sie kannten ihn aber eher als ältere Person, also musste ich diese Leerstelle füllen. Aus diesen ganzen Geschichten hatte ich eine Idee von ihm, aber dann ließ ich meiner Fantasie freien Lauf, um herauszufinden, wie er zu diesem älteren Mann wurde.

An einer Stelle im Buch denkt Midhat darüber nach, wie "man seine eigenen Scharaden nach seinem Tod kolportieren würde". War "Der Fremde aus Paris" ein Versuch, die Erinnerung an Ihren Großvater lebendig zu halten?

Hammad: Dieser Teil des Buches ist etwas selbstreflexiv. Hier möchte ich dem Leser erklären, dass ich zwar über ein reales Leben schreibe, aber dass notwendigerweise Vieles auch frei erfunden ist. Ich schreibe, dass ich zwar auf der Grundlage von Recherchen und Anekdoten, aber mit meiner eigenen Kreativität die Geschichte eines Lebens nachvollziehe.

Umschlag von Isabella Hammads Roman "Der Fremde aus Paris", aus dem Englischen von Henning Ahrens; Luchterhand Literaturverlag
Was hätte sein können: "Alles, was man über die historische Vergangenheit in Palästina schreibt, wird von der Gegenwart beeinflusst. In meinem Fall funktioniert das Ganze wie eine Art dramatische Ironie. Das Buch handelt zwar nicht direkt von der Nakba, aber gleichzeitig steht sie im Zentrum, denn der Leser von heute weiß ja, dass die Nakba kommt," sagt Hammad.

Der erste Teil des Buches endet damit, dass Midhat bei seinen Gastgebern in Frankreich zum ersten Mal Rassismus erlebt, bevor er nach Palästina zurückkehrt. Sie sind in England aufgewachsen, haben Sie ähnliche Erfahrungen gemacht?

Hammad: Ich erinnere mich an den 11. September 2001, als ich noch ein Kind war. Zu dieser Zeit gab es einen plötzlichen Anstieg an Islamophobie. Es war verwirrend und schwierig für uns als Kinder mit muslimischem Hintergrund. Ich wusste damals noch nicht, wie ich damit umgehen soll. Mir fehlten die richtigen Worte dafür. Einige Dinge, die die Schulkinder uns nachriefen, waren wirklich sehr schockierend. Vor allem wenn man heute darüber nachdenkt.

Welche Rolle spielt die Figur des Priesters in Ihrem Buch?

Hammad: Der Priester schreibt eine Studie über Nablus. Er ist in gewisser Weise eine Gegenfigur zum rassistischen Dr. Molineau, Midhats Gastgeber in Frankreich: Er hält sich für liebevoll und wohlwollend, aber ihm ist nicht bewusst, wie subjektiv seine Sicht auf Nablus ist, also völlig voreingenommen und parteiisch. Er liebt die Stadt, aber er sieht die Einwohner so, als ob sie sich niemals verändern würden, als ob die Stadt repräsentativ für eine islamische, in der Zeit gefangene Zivilisation wäre. Die Figur basiert übrigens auch auf einer historischen Person, einem Geistlichen, der in den 1920er Jahren ein Buch über Nablus geschrieben hat.

Die Verlagswelt tendiert aus Gründen des Marketings dazu, Autoren in Schubladen zu stecken. Wie beurteilen Sie diese Praxis?

Hammad: Niemand möchte in einer Buchhandlung auf einem speziellen Buchregal landen oder nur dafür bekannt sein, Nachrichten aus bestimmten Regionen der Welt zu überbringen. Wie jeder Schriftsteller möchte ich vor allem für gute Bücher und literarische Qualität stehen. Natürlich sind meine politischen Ansichten und Überzeugungen untrennbar mit meinem Schreiben verbunden, aber mein Hauptziel ist es, gute Kunst zu machen.

War es jemals ein Problem für Sie, über Palästina zu schreiben. Schließlich ist das Thema heute in der Kulturwelt besonders umstritten?

Hammad: Meine Geschichte spielt vor der Gründung Israels, daher geht es mir gar nicht um die Besatzung, die ja bis heute andauert. In gewisser Weise ist das an sich schon provokativ, da ein Teil der nationalen Erzählung Israels ja besagt, das Land sei bei der Entstehung des Staates Israel leer gewesen. Meine Hauptabsicht war es allerdings, eine Geschichte über die Palästinenser zu schreiben. Es hat Tradition, dass palästinensische Stimmen vor allem im Westen zum Schweigen gebracht werden, und es gibt immer noch eine große Vorsicht, insbesondere in den USA, wenn man über das Leben, die Sichtweise und den Befreiungskampf der Palästinenser schreibt. Das spürt man, das ist greifbar. Ich bin daher sehr glücklich, einen Verlag zu haben, der mich unterstützt.

Wie ist es, über einen Ort zu schreiben, der zu der damaligen Zeit so anders war als heute?  

Hammad: Es ist sicherlich schwierig, mit den Mitteln der Fantasie über die aktuelle Realität hinaus in die Vergangenheit zu schauen. Das Schreiben darüber, "was hätte sein können", fühlt sich dann wie eine unmögliche Übung an, denn sie ist von dem Wissen darüber überschattet, was tatsächlich passiert ist.

Alles, was man über die historische Vergangenheit in Palästina schreibt, wird von der Gegenwart beeinflusst. In meinem Fall funktioniert das Ganze wie eine Art dramatische Ironie. Das Buch handelt zwar nicht direkt von der Nakba (arab. Katastrophe, gemeint ist die Vertreibung der Palästinenser nach 1948, Anm. der Red.), aber gleichzeitig steht sie im Zentrum, denn der Leser von heute weiß ja, dass die Nakba kommt.

 

Wollten Sie mit "Der Fremde aus Paris" palästinensische Stimmen für sich sprechen lassen, also das Narrativ über diese historischen Ereignisse zurückgewinnen?

Hammad: Natürlich. Palästinenser brauchen nicht nur eine Befreiung, sie müssen über die Bedingungen ihrer Befreiung bestimmen. Ich sehe mich als Teil einer Generation von Schriftstellern und Künstlern, die aus dem historischen Palästina und der Diaspora kommen und in einer Vielzahl von Sprachen schreiben. Heute gibt es eine Menge Kunst und Literatur aus Palästina und das ist aufregend.

Bei der Veröffentlichung Ihres Romans war dauernd davon die Rede, dass Sie "erst 27 Jahre alt" seien. Hat Sie das gestört?

Hammad: Ich weiß es nicht. Es macht mir nichts aus. Bücher müssen ja auch verkauft werden. Als ich "Der Fremde aus Paris" angefangen habe, war ich ja noch viel jünger. Um ehrlich zu sein, war das so ein großes Unterfangen, dass es gut war, jung und naiv zu sein. Jetzt arbeite ich an einer weiteren Geschichte und mir ist viel bewusster, wie viel Arbeit und Zeit sie erfordert. Ich habe die fröhliche Unwissenheit der 22-Jährigen verloren.

Interview: Schayan Riaz

© Qantara.de 2021

Isabella Hammad, Der Fremde aus Paris, Luchterhand 2020, 736 S.